„Irgendwann tragen wir alle Narben davon“
David Grossman über Glück, Optimismus, den anderen Blickwinkel – und seine Hoffnungen für Israel
Wie gehen Sie damit um? Grossman: Indem ich anfange zu schreiben. Ich muss irgendetwas schaffen, irgendeine Bewegung erzeugen, um diesem Sog der Trauer zu widerstehen. Aber in Israel gibt es nach meinem Empfinden keine Mitte: Entweder sind wir verzweifelt oder euphorisch. Und wenn es einen Anlass gibt, traurig zu sein, dann lassen wir uns in dieses Gefühl hineinfallen.
Was dem Eindruck widerspricht, den man als Besucher Israels hat ... Grossman: In der Tat gibt es hier eine enorme Vitalität, Kreativität und Einfallsreichtum. Das kann man überall sehen. Aber darunter, dicht an der Oberfläche ist diese Strömung von existenzieller Trauer und Düsterkeit, die jederzeit hervorbrechen kann. Vielleicht müssen wir deshalb so kreativ und aktiv sein, um dem entgegenzuwirken.
Dass die Ich-Erzählerin Ihres neuen Buches Gili heißt – was ‚sei glücklich‘ bedeutet – kann so gesehen kein Zufall sein.
Grossman: Natürlich nicht. Aber wohlgemerkt, damit wird eine Aufforderung formuliert. Unser beliebtestes Fest ist Purim, eine Art jüdisches Gegenstück zu Halloween, und der Titel des populärsten Purim-Lieds lautet ‚Du musst glücklich sein‘. Das ist das Mittel gegen die Schwerkraft der Traurigkeit. Die ist nach all den schrecklichen Katastrophen, die wir durchmachen mussten, in unserer DNA eingespeichert. Aber gleichzeitig würde ich behaupten, dass Menschen generell ab einem bestimmten Alter viel guten Willen brauchen, um an das Glück zu glauben. Früher oder später tragen wir alle die Narben des Lebens davon.
Aber braucht man als Autor nicht eine Spur von Optimismus, um immer neue Geschichten zu erzählen?
Grossman: Ich bin auch Optimist. Ich suche nach dem Guten in Situationen. Ich kann mich noch erinnern, als ich zum ersten Mal einen Erwachsenen das Wort ‚Glück‘ sagen hörte. Da war ich ein kleiner Junge, und ich fuhr morgens um sieben von dem heruntergekommenen Stadtteil in Südjerusalem, in dem ich wohnte, mit dem Bus zur Schule. Der Bus war voller Menschen, die noch den Albträumen ihrer Nacht
Der Sog der Trauer kommt wohl nicht nur von den Traumata der Vergangenheit, sondern liegt auch in der Gegenwart begründet.
Grossman: Das Motto unseres Lebens ist ‚Überleben‘. In dieser Geisteshaltung sind wir gefangen. Wir können schon nicht mehr glauben, dass wir ein Leben führen, das über den Blickwinkel wechseln, bewegt sich die Geschichte wie ein Kaleidoskop und erzeugt neue Formen. Und wenn alle Beteiligten das Gleiche tun, dann entwickelt sich eine neue Geschichte mit ganz eigenen Energien. Keiner ist mir darin gefangen.
Sie dringen sehr tief in diese Verwundungen vor, schildern detailliert das Martyrium, das eine der Hauptfiguren in einem Internierungslager erlebte. Wie schmerzhaft ist das für Sie? Grossman: Es ist nicht immer einfach. Aber ich fühle mich dazu hingezogen, das zu erfahren. Ich will das genau so erleben wie meine Protagonisten. Und ich bekomme ja dann am Schluss auch eine kathartische Erholung. Mir geht es wiederum darum, in verschiedenste Existenzen und ihre Blickwinkel einzutauchen – über die ich kein Urteil fälle. Die Geschichte ist inspiriert von den Erfahrungen meiner Freundin Eva Panic-Nahir. Ich war auch nicht immer der gleichen Meinung wie sie, aber auch über sie habe ich nie geurteilt. Wenn du eine Figur bewertest, dann kannst du sie nicht mehr getreu schildern. Du sollst deine Charaktere nie lieben oder hassen, sondern musst einfach ihnen gegenüber offen sein. Und diese Erfahrungen, die ich mit meinen Charakteren mache, die lassen sich auf Länder und Nationen übertragen.
Weil diese die offiziellen Versionen ihrer nationalen Geschichte hinterfragen sollten?
Grossman: Genau. Diese Versionen sind wie die Reiterstatuen von Königen, die auf irgendwelchen Plätzen herumstehen. Und nach einiger Zeit sollten wir einen genaueren Blick auf solche Geschichten werfen. Indem wir uns ständig als Opfer betrachten, sind wir nicht imstande, die Situation zu verändern und uns aus dieser Denkfalle zu befreien. Das Problem ist einfach, dass diese nationalen Mythen nach einiger Zeit erstarren, so wie auch unsere Identität immer starrer wird je älter wir werden. Ich lehne das für mich ab. Ich will zum Beispiel wissen, wie ein Palästinenser unseren Konflikt wahrnimmt. Wobei auch er selbst Gefangener dieser offiziellen Geschichte von Angst und Misstrauen ist. Als Autor bin ich freilich in der glücklichen Lage, dass ich mich ständig neu erschaffen kann, ich führe ein Leben der Flexibilität.
Grossman:
Gott sei Dank.
Wie sollen andere Menschen zu dieser Flexibilität finden?
Grossman: Wir beten alle unseren Körper an und trainieren ihn. Also können wir das Gleiche mit unserem Geist machen. Wenn Sie mal mit jemand diskutieren oder streiten, versuchen Sie doch mal, dessen Standpunkt einzunehmen und sich aus seinen Augen anzuschauen. Außerdem ist es wichtig, sich gegen die Berichterstattung der Massenmedien zu wehren. Die heißen nicht so, weil sie für die breite Masse gedacht sind, sondern weil sie aus den Menschen eine Masse, wenn nicht sogar einen Mob machen. Sie vereinfachen die Dinge, verteufeln die Gegenseite und idealisieren die eigene. Diese schlichte Darstellung der Dinge ist sehr bequem, aber sie macht letztlich nur krank. Wir müssen stattdessen genauer hinschauen, müssen sehr wählerisch sein, welche Nachrichten wir konsumieren, oder um es auf einen Nenner zu bringen: Wir müssen auf Nuancen achten.
Doch bei aller Wertschätzung für subjektive Blickwinkel, die Sie wiederum in „Was Nina wusste“zeigen, gibt es auch eine objektive Wahrheit? Grossman: Natürlich. Es gibt objektive Wahrheit bezügliche grundlegender Werte und Verhaltensregeln. Menschen dürfen einander keinen Schmerz zufügen und sollen einander eben als Menschen betrachten.
Am Ende des Romans steht die Vision, dass eine Generation der Enkel die Traumata der Vergangenheit überwindet und eine hoffnungsvolle Zukunft einleiten kann.
Grossman: Das würde ich genauso unterschreiben.
Wussten Sie, wie die Geschichte ausgeht?
Grossman: Absolut nicht, selbst wenn sie zum Teil auf einer wahren Geschichte beruht. Wann immer ich einen Roman schreibe, will ich das Ende nicht kennen. Ich möchte, dass mich mein Buch in Bereiche führt, wo ich schutzlos bin. Oder wie es die Amerikaner ausdrücken: aus meiner Komfortzone. Meine Geschichte soll mich verraten. Aber dieser Verrat ist ein Ausdruck absoluter Loyalität. Denn das bringt mich dazu, die Dinge zu sagen, die ich eigentlich lieber nicht ausdrücken wollte. So gesehen ist die Geschichte mir gegenüber loyaler als ich es selbst zu sein wage.
Welche Hoffnungen haben Sie für die israelische Geschichte?
Grossman: Alles hängt davon ab, ob wir Frieden mit unseren Nachbarn erreichen. Wir haben alle möglichen elaborierten Mechanismen entwickelt, um die Existenz eines anderen Volkes zu verleugnen. Das kann so nicht weitergehen. Aber wir werden diese Situation erst lösen, wenn wir mutige und intelligente politische Führer haben – was genauso für die Palästinenser gilt. Natürlich wird es Extremisten und Fanatiker geben, die das zu zerstören suchen. Es wird nicht leicht sein, aber es ist zu schaffen, wenngleich ich nicht weiß, wie lange es dauert. Aber erst wenn wir keine Angst mehr haben, dann können wir das Leben in seinen ganzen Dimensionen leben, so wie wir es verdienen. Natürlich erfordert das, dass die arabische Seite anerkennt, dass wir in dieses Land gehören. Wir sind hier nicht per Zufall oder aus irgendeinem politischen Missverständnis gelandet, das ist das Land unserer Herkunft. Aber diese Tatsache sollte uns selbst motivieren, uns mit unseren Nachbarn zu versöhnen und ihren Blick auf uns zu verändern. Sie werden uns wohl nie lieben. Es wird kein Hollywood-Happy-End geben, wo wir mit den Palästinensern Hand in Hand in den Sonnenuntergang gehen. Es geht nur darum, dass wir alle erfahren, was ein friedliches Leben ist.