Alles hängt mit allem zusammen
Colum McCann Israel und die Palästinenser: Ein meisterhaft gefügter Roman aus 1001 Kapiteln
Colum McCann: Apeirogon A. d. Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, 608 Seiten, 25 Euro
Rami Elhanan ist Israeli. Er war Soldat. Seine 13-jährige Tochter Smadar stirbt 1997 bei einem palästinensischen Selbstmordattentat. Bassam Aramin ist Palästinenser. Er warf Handgranaten und saß sieben Jahre in israelischer Haft. Seine zehnjährige Tochter Abir stirbt 2007 durch ein Gummigeschoss eines israelischen Grenzsoldaten. Die Männer werden Freunde – und sie kämpfen über Grenzen hinweg gemeinsam für Versöhnung und Frieden, gegen die Spirale von Rache und Gewalt.
Colum McCann nennt sein 600 Seiten starkes Buch über zwei Väter, die im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt ihre Kinder verloren haben, einen „Hybrid-Roman“. Titel: „Apeirogon“– das bedeutet „eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten“. Rami und Bassam gibt es wirklich. Der irischstämmige, in New York lebende Colum McCann ist den Männern auf einer Bildungsreise durch Israel und die palästinensischen Gebiete begegnet und hat daraus ein einzigartiges literarisches Werk komponiert.
Aufgefächert in 1001 kleine, oft nur ein paar Zeilen lange Kapitel (natürlich eine Hommage an Tausendundeine Nacht) entfaltet McCann seine komplexe Erzählung, die Recherche-Wunderwerk und schillerndes Kaleidoskop ist. Fünf Jahre hat der 1966 geborene Schriftsteller an dem Werk gearbeitet. Wie der Autor ein Gespinst aus Querverweisen, Analogien, Gegenschnitten, Spiegelungen, Tiefenbohrungen, Abschweifungen und Perspektivwechseln wuchern lässt und es zugleich souverän choreografiert und beherrscht, ist meisterhaft. Seinen Bauplan finden wir auf Seite 583, wo McCann in einem Textbaustein schreibt: „Aus einer Geschichte entsteht eine andere.“Diesem Prinzip folgt das Buch, das weit mehr erzählt als nur die Schicksale der Familien Elhanan und Aramin, in seiner Erzähllust und Detailfülle ein Panorama des Menschseins entwirft. Alles hängt mit allem zusammen, sagt dieses Buch, das eine Wundertüte ist – traurig, überraschend, ermutigend, weise, zornig.
Colum McCann ist ein Experte der literarischen „Spekulation“auf Basis von realen Personen und Ereignissen. Seine Doku-Romane über Rudolf Nurejew („Der Tänzer“) oder den Seilakrobaten Philipp Petit („Die große Welt“) sind jedoch konventioneller als das aus Bruchstücken zu einem großen Bild zusammengefügte „Apeirogon“. Immer wieder umkreist der Roman
Als Olga Tokarczuk 2019 nachträglich mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, erhielt sie diese höchsten literarischen Ehren in erster Linie für ihr Geschichtspanorama „Die Jakobsbücher“aus dem Jahr 2014. In sieben Abteilungen hatte die Polin damals aus dem Leben des religiösen Weltenbummlers Jakob Joseph Frank berichtet, der „das Überschreiten von Grenzen als eine Lebensform“– so das Nobel-Juroren-Lob – praktizierte: vom Juden zum Moslem, vom Moslem zum Katholiken.
In altehrwürdiger Sprache auf dem Cover schmackhaft gemacht – „Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung“– gelang Tokarczuk auf 1150 Seiten ein Historienroman, ein literarischer Wurf, der auch den Antisemitismus, die Diskriminierung ethnischer Minderheiten und die Leibeigenschaft im Polen des 18. Jahrhunderts ungeschönt wiedergab – „bereichert durch die Imagination, die größte den Schmerz und die Trauer der Familien, gibt den Erinnerungen an Smadar und Abir Raum, folgt der heroischen Beharrlichkeit der Väter, gegen Zweifel und Ablehnung für Versöhnung einzutreten. Eine ihrer gemeinsamen Vortragsreisen führt sie auch nach Deutschland – das Rami eigentlich nie betreten wollte. McCann schildert die Gefängnisjahre Bassams, seinen Hungerstreik, die Misshandlungen – und er macht am Streitgespräch zwischen Rami und seinem Sohn über den Militärdienst deutlich, wie tief die Wehrhaftigkeit zum nationalen Selbstverständnis Israels gehört.
Immer wieder begegnet der Leser dem Beklemmenden der Grenzen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, fährt mal mit Rami, mal mit Bassam durch diese Zonen von Machtgefälle, Willkür,