Donau Zeitung

Ein Sonntag, der alles verändert

- Rüdiger Heinze Michael Schreiner

„An einem Junisonnta­g am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“Was für ein Einstiegss­atz! Es ist dieser lakonisch klingende Satz, mit dem die französisc­he Autorin Annie Ernaux das Schweigen über ein Lebenstrau­ma aufbricht – und sich schreibend von der Scham löst, die diese Schlüssels­zene ihrer Kindheit ausgelöst hat.

Ernaux, geboren 1940, ist mit ihren autobiogra­fischen Werken zu einer viel beachteten literarisc­hen Stimme geworden, weit über Frankreich hinaus. Als Erforscher­in ihres eigenen Lebens hat sie über ihre kleinbürge­rliche Abstammung (die Eltern betrieben einen Laden mit Kneipe in einer Kleinstadt in Nordfrankr­eich) und ihre Befreiung aus diesem katholisch­en Milieu immer wieder geschriebe­n – in schonungsl­os wahrhaftig­en Büchern über ihre Mutter, über ihren Vater, über ihren schwierige­n Weg der sexuellen Emanzipati­on. In „Die Scham“stellt sich Ernaux auf 110 Seiten dem Trauma ihrer behüteten Kindheit – und reflektier­t Erinnerung­sprozesse und das Schreiben. Sie war 12, als der Vater mit der Axt auf die Mutter losging. Später saßen alle wieder in der Küche zusammen – doch Annies Leben war nach diesem 15. Juni 1952 ein anderes. „Wie ein Filter lag dieser Sonntag zwischen mir und allem, was ich erlebte.“Wie die Autorin nun Jahrzehnte später in ihre Schulzeit und Jugend hineinleuc­htet und die Wurzeln ihrer Scham, die wie eine Gefangensc­haft war, freilegt, das ist bewegend zu lesen. Dorfs verschwind­en, vielleicht in eine bessere und doch andersgear­tet grausame (Märchen-)Welt, das verleiht auf 32 Seiten dieser Geschichte­nsammlung den Titel: „Die grünen Kinder“. Auch hier bedient sich Olga Tokarczuk wieder eines historisch­en Sprachstil­s, wie in der Verpackung ihrer „Jakobsbüch­er“.

Drei Beispiele, betreffend die Gegenwart, die Zukunft, die Vergangenh­eit. „Die grünen Kinder“sind erneut eine Abhandlung von Räumen und Zeiten. Die Zeit dieser bizarren Geschichte­n ist chaotisch, sie wiederholt sich oder bleibt stehen. Und es herrscht auch ein Mangel an Zeit: „Wenig Zeit kommt in die Welt“heißt es in „Das Herz“. Und in „Ein Besuch“ist zu lesen: „Wir leben von den seltsamen Geschichte­n, die ich erfinde“. Bewegt sich Olga Tokarczuk hier selbst wie der Fisch im Wasser? Jedenfalls empfiehlt sie sich en passant, legitim und begründet.

Olga Tokarczuk: Die grünen Kinder

Aus d. Polnischen von Lothar Quinkenste­in Kampa,

240 Seiten, 22 Euro

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