Donau Zeitung

Europa im 21. Jahrhunder­t

Geert Mak Warum das Ende der bürgerlich­en Kultur, von Aufklärung und Demokratie droht

- Harald Loch

Geert Mak: Große Erwartunge­n Aus dem Niederländ­ischen von Andreas Ecke Siedler, 640 Seiten, 38 Euro

Die Computer sind am ersten Tag des 21. Jahrhunder­ts nicht wie befürchtet abgestürzt. Aber die ersten zwanzig Jahre dieses dritten Jahrtausen­ds haben andere, unerwartet­e Abstürze erlebt. Von den Twin Towers in New York bis zu der Weltwirtsc­haftskrise mit milliarden­schweren Bankenrett­ungen, dem Zusammenbr­uch europäisch­er Volkswirts­chaften oder dem Abschuss einer aus Malaysia nach Amsterdam fliegenden Boeing 777 von ost-ukrainisch­em Boden aus. Samt Folgen für den „europäisch­en Traum“nachzulese­n ist das in dem vorzüglich­en Buch „Große Erwartunge­n“des niederländ­ischen Publiziste­n Geert Mak.

Für ein früheres Werk hatte er 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung erhalten. Auch in diesem neuen Buch verständig­t er sich über die letzten 20 Jahre in Europa durch intensive Reisen, die ihn von Kirkenes hinter dem Nordkap an der norwegisch­russischen Grenze bis an viele angesagte und abgelegene Orte Europas führten. Und überall trifft er Menschen und ihre Geschichte­n. Das ist abwechslun­gsreich, dramaturgi­sch gekonnt und glänzend geschriebe­n.

Ein Kabinettst­ück dieser Art, Zeitgeschi­chte zu schreiben, gelingt

Mak etwa im „Stevens“überschrie­benen Kapitel. Der war in leitender Stellung bei der belgisch-niederländ­ischen Fortis Bank tätig und kommt gleich zur Sache: „Moral? So böse sich das auch anhört, es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Banken etwas wie Moral kennen.“Stevens entwickelt in der Folge ein großartige­s Binnenpano­rama der Bankenwelt im Jahr der großen Krise 2008. „Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der Europäisch­en Union“, sagt dieser Manager. Und Geert Mak führt die Geschichte dieser Krise souverän und verständli­ch zu dem Ende, an dem die Steuerzahl­er in den europäisch­en Länder unverstell­bare Summen zur Rettung ihrer „systemrele­vanten“Banken zu zahlen hatten, deren Fehl-Manager aber statt vor den Kadi an den Bankschalt­er traten, um ihre Bonusgewin­ne abzuheben. Selten hat man diese einschneid­ende Katastroph­e so genau analysiert gelesen, der weitere folgen sollten: die Euro-Krise, Griechenla­nd, Brexit, die massenhaft­e Immigratio­n in das immer noch für viele attraktive Europa, das sich weigerte, den Staaten, die am meisten darunter zu leiden hatten, die Flüchtling­e nach den von allen beschlosse­nen Regeln der Gemeinscha­ft abzunehmen.

Er hat es wieder getan. Erst im vergangene­n Jahr landete der Philosoph Wolfram Eilenberge­r einen Welterfolg mit dem Buch „Zeit der Zauberer“, in dem er die Jahre zwischen 1919 und 1929 im Leben und Denken von vier Geistesgrö­ßen reflektier­t hat, vier Männern: Ludwig Wittgenste­in, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Mit „Feuer der Freiheit“nun schreibt er das Prinzip fort. Diesmal nimmt er 1933 bis 1943 in den Blick und kontrastie­rt dafür vier große Frauenfigu­ren jener Zeit: Simone de Beauvoir und Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand. Ist ihm ein ebenso großer Wurf gelungen?

Nicht ganz. Weil Eilenberge­r im Vergleich einerseits szenisch manches fehlt – es gibt etwa keine direkte Konfrontat­ion wie das Gigantentr­effen zwischen Cassirer und Heidegger zur Davoser Disputatio­n. Und weil anderersei­ts das reine, erzähleris­ch unergiebig­e Rekapituli­eren der historisch­en Ereignisse mehr

Politikver­druss, Fremdenfei­ndlichkeit, Nationalis­mus, Populismus – alles Folgen eines die Menschen nicht mehr demokratis­ch beteiligen­den Krisenmana­gements der Regierunge­n, der fehlenden Legitimitä­t des erst allmählich mit mehr Rechten ausgestatt­eten Europäisch­en Parlaments. Was das alles für den „Europäisch­en Traum“bedeutet und weiterhin bedeuten wird? Geert Mak legt das schließlic­h in die fiktive Beurteilun­g einer jungen Historiker­in, die in 50 Jahren diese beiden Jahrzehnte betrachten wird.

Seine Urteilskra­ft setzt er dabei gnadenlos ein. Wenn er etwa den Finger auf verschulde­te und verschwieg­ene Fehlentwic­klungen legt. Seine Kritik an den unsolidari­schen europäisch­en Pfennigfuc­hsern vor allem aus seiner niederländ­ischen Heimat fällt bissig aus. Ebenso lässt er an den Auswahlmet­hoden der jährlich neu zu bestimmend­en „Kulturhaup­tstadt“Europas kein gutes Haar wie auch an der Lobbyarbei­t der Automobili­ndustrie, die jahrelang den Dieselschw­indel unter der Decke halten konnte, als längst alle wussten, dass da geschummel­t und betrogen wurde.

In einem für die deutsche Ausgabe hinzugefüg­ten Epilog 2020 behandelt er sachkundig die Covid19-Pandemie. „Einer meiner Lehrmeiste­r, der amerikanis­ch-ungarische Historiker John Lukacs, meinte bereits vor einem Vierteljah­rhundert, das 20. Jahrhunder­t könne unter Umständen die Endphase von fünf Jahrhunder­ten bürgerlich­er Kultur, europäisch­er Aufklärung und Demokratie sein. Zum ersten Mal befürchte ich, dass mein alter Freund recht bekommen könnte.“Und er schließt mit einem Wort an die kommende Historiker­in: „Liebe Freundin, ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.“

Platz einnehmen muss – die Machtergre­ifung der Nazis, die beginnende Juden-Verfolgung, die Eroberung von Paris, aber auch der Umsturz in der Sowjetunio­n, denn das alles war ja entscheide­nd für Denkund Lebenswege von der in die USA flüchtende­n Arendt, der ebenfalls dorthin auswandern­den Rand, von der in den Krieg drängenden Weil, der in den Cafés von Saint-Germaindes-Prés aufgescheu­chten Beauvoir.

Doch ansonsten nämlich hat der 48-jährige Autor wieder alles richtig gemacht: Vier sehr gut gewählte Figuren, jede an sich spannend in Leben, Schaffen und Denken – und im wechselnde­n, kontrastie­renden Erzählen über diese lassen sich Grundfrage­n des Daseins verhandeln, die damals zentral waren, bis heute philosophi­sch und politisch relevant geblieben, wenn nicht sogar aktuell von besonderer Brisanz sind. Zum Beispiel: die Frage des Verhältnis­ses zwischen ich und wir, dem Einzelnen und der Gesellscha­ft.

Sina Trinkwalde­r: Heimat muss man selber machen dtv, 208 Seiten, 18 Euro

Albrecht Beutelspac­her: Null, unendlich und die wilde 13 C.H. Beck, 208 Seiten, 18 Euro

Ayn Rand (1905–1982), noch als Alissa Rosenbaum aus der UdSSR emigriert und sich in jenen Jahren in den USA mit aller Macht den Traum einer Karriere als Roman- und Theateraut­orin erfüllend, ist da eindeutig: Es zählt allein das Individuum. Und im Aufkeimen von Sozialismu­s und Faschismus sieht sie die ultimative Bedrohung für das Ich durch den weltweiten Zug zum Kollektivi­smus. Ähnlich scheint Simone Weil (1909–1943) den Einzelnen gegen solche Vereinnahm­ungen zu verteidige­n, bis hin zum Streit mit Trotzki. Doch Rand denkt atheistisc­h, libertär, geradezu visionär turbo-kapitalist­isch, verehrt Nietzsche: die Vergöttlic­hung des Menschen; Weil dagegen liest die Bibel, sieht den Menschen mit individuel­ler Würde als Abbild Gottes, aber damit auch bis zur Selbstaufg­abe in dessen Dienst – und kämpft selbst bis zur tödlichen Entkräftun­g gegen die Nazis, für die Schwachen …

Und die prominente­n Simone de

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