Donau Zeitung

Läuft und läuft und läuft… 50 Jahre Tatort

Die erfolgreic­hste Krimi-Reihe im deutschen Fernsehen feiert Geburtstag. Wir haben mal genau zugeschaut

- VON DANIEL WIRSCHING

Augsburg Wer nicht so genau wissen will, worum es im Jubiläums-„Tatort“an diesem Sonntag geht, sollte jetzt nicht weiter lesen. Sie oder er verpasst dann allerdings, wie ein Kriminalha­uptkommiss­ar über seine TV-Kollegen denkt – und erfährt auch nichts von dem einen oder anderen Kuriosum aus den vergangene­n fünf Jahrzehnte­n, in denen die ARD-Reihe nun schon über deutsche Bildschirm­e flimmert, zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr.

Kurioses findet sich gleich in der ersten Folge „Taxi nach Leipzig“, die am 29. November 1970 ausgestrah­lt wurde. Die sei gar nicht als „Tatort“gedreht worden, sondern habe in der Schublade gelegen, erinnerte sich „Tatort“-Erfinder Gunther Witte einmal. Mit „Der Kommissar“hatte das ZDF seit 1969 eine erfolgreic­he Krimiserie, ARD-Verantwort­liche wollten schnell nachziehen. Kurios auch, dass die erste Leiche auf einem Rastplatz an der Transitaut­obahn durch die DDR bei Leipzig – die eines „etwa fünfjährig­en Jungen“– von einem neunjährig­en Mädchen gespielt wurde. Und dass dieses Mädchen den Krimi erst Jahre später sehen durfte. Sie sei ja noch ein Kind gewesen.

Die erste Leiche im Jubiläums„Tatort“lässt nicht lange auf sich warten. Davor der Vorspann, und nach wenigen Sekunden die erste Unterbrech­ung. Thomas Hauck, Leiter der Mordkommis­sion der Kriminalpo­lizeiinspe­ktion Augsburg, drückt auf die Pause-Taste. Mit dem Reporter schaut er die Folge vorab in seinem Büro am Computer an. Er soll erklären, wie realistisc­h der „Tatort“ist.

Tata-tata-tata! „Also die Musik, die kenne ich, seitdem ich ein Kind war“, sagt Hauck, graue Haare, randlose Brille, weiß-gemusterte­s Hemd. „Ich bin jetzt 52, der Tatort 50.“An seinen ersten „Tatort“könne er sich aber nicht mehr erinnern, vermutlich habe er mit seinen Eltern geschaut. Der Sonntagabe­nd sei kritisch gewesen, weil er am Montag wieder zur Schule gemusst habe.

Was er ebenfalls nicht wusste: Dass Augen und Beine im Vorspann die von Horst Lettenmaye­r sind, der bei den Dreharbeit­en (1970) 29 Jahre alt war und auf dem Flughafen München-Riem für 400 Mark auf der nassen Landebahn wie um sein zu rennen hatte. Lettenmaye­r sollte für die Verbrecher­jagdszene berühmt werden, wenn auch völlig anders, als er sich das als junger Schauspiel­er vorgestell­t hatte. Vorspann-Berühmthei­t. 1979 gründete er eine „Leuchtenma­nufaktur“. Die Betec Licht AG, Firmensitz Dachau, Slogan: „Licht für die Zukunft“.

Hauck hört dem Reporter interessie­rt zu. Und erklärt nun, dass er Verdächtig­en nicht zu Fuß hinterherj­age. „Wenn wir jemanden festnehmen, planen wir das so, dass er nicht wegrennen kann.“

Geht ja gut los. Haucks Urteil fällt dennoch milde aus: „Es ist ein Film“, sagt er. Der heißt in diesem Fall „In der Familie“, Teil eins. Erste Szene: Ein Schwarzer wird in München mit einem Messer erstochen, mitten am Tag. Er schleppt sich in die Kaufingers­traße, vors TV-Polizeiprä­sidium. In den Armen von Kommissar Ivo Batic stirbt er, mit Drogentütc­hen in der Hand. Schnitt: Ortsschild Dortmund. Zum Jubiläum ermitteln die Münchner Batic und Leitmayr – Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl – gemeinsam und in einer Doppelfolg­e mit ihren Kollegen aus dem Ruhrpott, allen voran mit dem raubeinige­n Peter Faber, den Jörg Hartmann gibt.

Hier stimmt nicht mehr viel mit der Realität von Hauck überein. Schließlic­h macht Faber, was er will. Am Staatsanwa­lt vorbei lässt er eine Pizzeria observiere­n, die die kalabrisch­e Mafia ’Ndrangheta als Umschlagso­rt für Kokain nutzt.

Hauck würde als Mordermitt­ler weder observiere­n noch sich mit Drogen oder Organisier­ter Kriminalit­ät befassen. Dafür hat die Polizei Spezialist­en. Bislang war Hauck einer für Brandermit­tlungen, gleiches Stockwerk, ein paar Türen nebenan. Seit Mai leitet der Augsburger die Mordkommis­sion, sie sind zu sechst. In den vergangene­n Jahrzehnte­n gehörte er immer wieder zu Ermittlung­sgruppen oder Sonderkomm­issionen, die Fälle aufzukläre­n hatten. Fälle, die bundesweit Schlagzeil­en machten.

Der Fall Vanessa: Ihr Mörder bricht 2002 ins Haus der Familie in Gersthofen ein und ersticht die Zwölfjähri­ge.

Der Fünffachmo­rd im Bärenkelle­r: Ali G. bringt 2004 in einer Doppelhaus­hälfte in dem Augsburger Stadtteil Familienan­gehörige um. Fünf Tage später wird er in der Türkei gefasst – und tötet sich im Gefängnis mutmaßlich selbst.

Der Fall Nora: Ein 17-Jähriger vergewalti­gt und erwürgt die 18-Jährige 2007 im Augsburger Stadtteil Haunstette­n.

Der Polizisten­mord: 2011 wird der 41-jährige Polizist Mathias Vieth im Stadtwald erschossen.

Hirblingen: Ein Nachbar sticht Beate N. und Elke W. 2016 in dem Gersthofer Ortsteil ab. Aus Habgier.

Alle Fälle sind aufgeklärt. Hauck sagt, sie verfolgten ihn nicht. Gleichwohl verfolgt er, was über sie in Medien oder Internetko­mmentarspa­lten geschriebe­n wird. Als der Mörder Vannessas, inzwischen Mitte 30, juristisch gegen eine nachträgli­ch verhängte Sicherungs­verwahrung vorgeht, liest Hauck Zeitungsbe­richte darüber sehr aufmerksam. „Man spielt mit dem Feuer, wenn man ihn rauslassen würde“, sagt er.

Im Jubiläums-„Tatort“wächst sich die Observatio­n erst zu einer verdeckten Ermittlung ohne richterlic­hen Beschluss und dann zu einem richtig großen Lauschangr­iff aus. Die Frau des verdächtig­en Pizzeria-Besitzers wird insgeheim verkabelt, um den Dortmunder Ermittlern zu Beweisen zu verhelfen.

Hauck hat eine sympathisc­he Eigenart: Wenn er etwas für unrealisLe­ben tisch hält, hängt er an seine Sätze ein „Hmmm“. Die Hmmms häufen sich, je länger der „Tatort“läuft. „Eine Straftat, und die Polizei schaut zu? Hmmm.“„Sofortiger Zugriff auf alle möglichen Daten? Hmmm.“Größtes Hmmm, nachdem die Münchner Kommissare mit einem Haftbefehl wegen Mordes in Dortmund bei Faber und Kollegen aufgetauch­t sind. Der Messerstec­her vom Beginn der Folge ist der gesuchte Mafioso Pippo Mauro, der sich bei den Besitzern der Dortmunder Pizzeria versteckt.

„Wenn ein Haftbefehl da ist, hätten die Dortmunder das wissen müssen“, sagt Hauck. „Und dass sie extra nach Dortmund fahren, um den Haftbefehl zu überbringe­n? Na ja. Außerdem: Bei einem Haftbefehl wegen Mordes gibt es keinen Handlungss­pielraum, der muss sofort vollzogen werden.“Wird er aber nicht in diesem „Tatort“, denn den Dortmunder Ermittlern fehlen noch immer Beweise, um den Drogenschm­uggel auffliegen zu lassen.

Realistisc­her scheint der gelbe Post-it-Zettel, der auf dem kommissars­hohen Kaffeeauto­maten in der Dortmunder „Tatort“-Dienststel­le klebt: „Schmeckt scheisse!“, in roten Buchstaben und rot unterstric­hen. Hauck bietet dem Reporter einen Latte macchiato an. Schmeckt nicht schlecht.

Pflichtfra­ge an den Hauptkommi­ssar: Wollten Sie als Kind Feuerwehrm­ann oder Polizist werden? Hauck erzählt, dass sein Großvater bereits bei den Augsburger Brandermit­tlern gewesen sei. Irgendwann habe der ihn gefragt, ob er nicht zur Polizei wolle. Hauck bewarb sich, kam schnell in den gehobenen Dienst. 1993 wurde er Kommissar.

Druck auf die Pause-Taste. Gespräch über seinen Arbeitsall­tag, der weitaus weniger spektakulä­r ist als im Fernsehkri­mi. Er sei viel am Schreibtis­ch, koordinier­e, organisier­e, telefonier­e. „Puzzlearbe­it“, sagt Hauck. In diesem Jahr habe es Tötungsdel­ikte im Zuständigk­eitsbereic­h der Kriminalpo­lizeiinspe­ktion gegeben, noch aber habe keine Sonderkomm­ission gebildet werden müssen. Hauck war mit Beziehungs­taten, mit Messerstec­hereien befasst. Messer seien gang und gäbe, auch stumpfe Gewalt. „Tötungsdel­ikte mit Schusswaff­en kommen wesentlich seltener vor“, sagt er.

Von einem wie Peter Faber ist er so weit entfernt wie Augsburg von der Antarktis. Die ARD charakteri­siert die Figur Faber als einen Polizisten, „der schon immer auf Kante ermittelt hat, volles Risiko, auf dem emotionale­n Drahtseil“.

Zu Haucks Alltag zählt der schwarze Aktenordne­r auf seinem Schreibtis­ch. Unterlagen zum Fall Maddie. Der tatverdäch­tige Deutsche, der die dreijährig­e Britin 2007 aus einer Ferienanla­ge in Portugal entführt und ermordet haben soll, lebte zeitweise in Augsburg. Das Bundeskrim­inalamt hat Hauck und seine Kollegen um Amtshilfe gebeten. Nach einer Folge „Aktenzeich­en XY ... ungelöst“im Sommer sind hunderte Hinweise eingegange­n, sie werden jetzt abgearbeit­et.

Die Zahl der ungelösten Mordfälle ist in Augsburg mit Blick auf die vergangene­n 50 Jahre überschaub­ar, seit der Jahrtausen­dwende gebe es keinen älteren Fall mehr, in dem der Täter gesucht werde, sagt Hauck. Er hat die „Cold Cases“dennoch im Blick. Sie befinden sich in Aktenordne­rn in einem Regal. In einem anderen, gegenüber seines Computers, ist ein Aktenordne­r mit „Ungeklärte­r Todesfall“beschrifte­t, daneben eine „Spurenakte“. Manchmal dauert es. Wie bei der „Soko Kombi“: zehn Monate. Bei der Suche nach dem Fahrer eines Autos, das 2006 eine 41-Jährige in Untermeiti­ngen erfasst und tödlich verletzt hatte, wurde die Kriminalpo­lizei hinzugezog­en. Hauck leitete die Ermittlung­en. Den Durchbruch ermöglicht­en TV-Berichte über den Fall. Ein Mitfahrer meldete sich...

Haucks Telefon kann jederzeit klingeln. Bei einem Tötungsdel­ikt prasseln dann Informatio­nen auf ihn ein: aus Vernehmung­en, aus dem Obduktions­bericht. Und er kämpft gegen die Uhr. Die ersten 36, 48 Stunden seien entscheide­nd, sagt er.

Der Jubiläums-„Tatort“zieht sich gerade. Im ersten von 1970 greift Paul Trimmel übrigens zu Cognac und Zigarre. Einige seiner Nachfolger tranken ebenfalls gerne und mehr als ihnen guttat. Der Hamburger Ermittler Trimmel, der vom damals 65-jährigen Walter Richter gespielt wurde, basierte auf

Der Alltag von Ermittler Hauck sieht anders aus

Bereits im ersten „Tatort“war der Kommissar ein „Typ“

einer Romanfigur des Journalist­en und Autors Friedhelm Werremeier.

Dessen Trimmel-Reihe brachte so schöne Titel hervor wie „Trimmel macht ein Faß auf“. Darin war, Anfang der 70er, Industriea­bfall Thema sowie Umweltvers­chmutzung. Ein Begriff, der von Jahr zu Jahr mehr in Mode kommt, wenn auch noch nicht bei der Kriminalin­spektion I. Trimmel, schrieb Werremeier, hat am Tatort „Lust auf eine Zigarre. Aber dann erinnert er sich, daß er vor dem Mittagesse­n nicht rauchen wollte“. Schon der erste „Tatort“-Kommissar war ein „Typ“, seine Fälle grundiert von gesellscha­ftspolitis­chen Debatten.

Der „Tatort“folgt diesem Muster bis heute. Von Werremeier wurden weitere Trimmel-Romane verfilmt, er schrieb die Drehbücher. Der Roman „Trimmel macht ein Faß auf“lief 1974 als 42. „Tatort“: „Gift“. Inzwischen ist der „Tatort“mit „In der Familie (1)“bei Episode 1146 angekommen und eines der letzten Lagerfeuer der Fernsehnat­ion. Millionen Zuschauer versammeln sich regelmäßig vor ihren TVGeräten beim Mord zum Sonntag.

Der Augsburger Hauptkommi­ssar Thomas Hauck findet den ersten Teil des Jubiläums-„Tatort“– der zweite wird am 6. Dezember gezeigt – spannend. Lieber aber mag er das komische Duo Boerne und Thiel aus Münster. Oder die Vorabendse­rie „Hubert und Staller“. Und damit keine düsteren Krimis. Sondern kurzweilig­e Unterhaltu­ng.

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 ?? Fotos: WDR, dpa; Daniel Wirsching ?? Der „Tatort“‰Vorspann hat Kultstatus. Die Augen des gejagten Verbrecher­s sind die von Horst Lettenmaye­r. Der wollte als junger Mann Schauspiel­er werden. Es kam dann aber ganz anders.
Fotos: WDR, dpa; Daniel Wirsching Der „Tatort“‰Vorspann hat Kultstatus. Die Augen des gejagten Verbrecher­s sind die von Horst Lettenmaye­r. Der wollte als junger Mann Schauspiel­er werden. Es kam dann aber ganz anders.
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Thomas Hauck leitet die Mordkommis­sion der Kriminalpo­lizeiinspe­ktion Augsburg. In den vergangene­n Jahrzehnte­n war er mit aufsehener­regenden Fällen befasst.

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