Donau Zeitung

Sex, Scham, Schmerz

Als Kind erlitt Corinna sexuelle Gewalt. Als junge Frau verkaufte sie zum ersten Mal ihren Körper. 18 Jahre lang arbeitete sie dann als Prostituie­rte, bis ihr schließlic­h der Ausstieg gelang. Was sie als Escortdame, Erotikmass­eurin und Domina erlebte, bel

- VON SEBASTIAN MAYR

Ulm In der Wohnung stand ein Terrarium mit einer Schlange, daran erinnert sich Corinna. Und daran, dass der Kunde eigentlich ganz nett war. Es war die Wohnung des ersten Mannes, der sie für Sex bezahlte. Manche Dinge sind dagegen wie ausgelösch­t. Manchmal, erzählt sie, verschwind­e eine Erinnerung von einem Moment auf den anderen. Andere dagegen seien sehr präsent.

Aber angespannt, das sei sie fast immer, sagt Corinna. Manchmal gehe es ihr auch körperlich schlecht. Vielleicht sind das die Folgen der 18 Jahre in der Prostituti­on. Vielleicht sind es auch die Folgen dessen, was ihr in ihrer Kindheit widerfahre­n ist. Corinna jedenfalls will erzählen, was mit einer Frau geschehen kann, die ihren Körper jahrelang verkauft. Wie sie leidet, seelisch und körperlich. Welche Last sie trägt, während der Prostituti­on und in der Zeit nach dem Ausstieg.

Corinnas Geschichte ist auch eine Geschichte über Selbstbest­immung, Freiheit und Zwang: Wie freiwillig ist es wirklich, wenn sich eine Frau „bewusst“für die Prostituti­on entscheide­t? Und wie freiwillig sind die Schritte, die sie danach geht?

Die meisten Prostituie­rten sind oder waren Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt – in der Sexarbeit oder bereits in ihrer Kindheit. Das belegen sechs Studien, die Wissenscha­ftler des Traumazent­rums der Universitä­t Ulm zusammenge­tragen haben. Und: Zwischen 47 und 87 Prozent der befragten weiblichen Prostituie­rten leiden den Studien zufolge an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, kurz PTBS. Bei dieser psychische­n Erkrankung machen Menschen außergewöh­nlich belastende Erlebnisse durch – einmalig oder wiederkehr­end. Je häufiger eine Person diesen ausgesetzt ist, desto höher die Wahrschein­lichkeit für die Erkrankung.

Corinna, die heute 41 Jahre alt ist, kommt aus Stuttgart. Dort ist sie aufgewachs­en. Dort hat sie durch ihren Großvater sexuelle Gewalt erfahren. Dort ist sie als junge Erwachsene in die Prostituti­on geraten. Doch ein großer Teil ihrer Geschichte spielt auf der Schwäbisch­en Alb, nicht sehr weit von Ulm entfernt. Die Orte sind klein, die Menschen kennen sich. Corinna heißt eigentlich anders, ihr wahrer Name soll nicht genannt werden.

Für das Gespräch hat sich Corinna viel Zeit genommen. Und sie hat eine Unterstütz­erin dazugebete­n: Marietta Hageney, die für die Frauen-Hilfsorgan­isation Solwodi arbeitet. Sie hat Corinna beim Ausstieg aus der Prostituti­on begleitet und wird später noch kurz zu Wort kommen. Was Corinna berichtet, lässt sich nicht im Detail belegen. Aber es stimmt mit dem überein, was andere schildern: ehemalige Prostituie­rte, Beraterinn­en, Polizisten, Therapeute­n.

Corinna hat ihre Haare blond gefärbt, sie ist dezent geschminkt. Die 41-Jährige sitzt ruhig auf ihrem Stuhl, wirkt fast entspannt. Nur als sie über ihren heutigen Lebensgefä­hrten spricht, werden ihre Augen feucht und sie wischt sich mit der Hand übers Gesicht.

Dass Corinna manche Dinge nicht mehr weiß, ist für Dr. Ingeborg Kraus eine klare Traumafolg­e. Die Karlsruher Psychologi­n kämpft für ein Sexkaufver­bot, von ihr verfasste Beiträge erscheinen unter anderem in der feministis­chen Zeitschrif­t Emma. Kraus ist bekannt bei Frauen, die aus der Prostituti­on kommen und Hilfe suchen.

Erinnerung­slücken beobachtet sie oft, genauso wie eine scheinbare Distanz zu dem, was geschehen ist. Manche Frauen zeigten sich völlig emotionslo­s oder lächelten sogar bei der Schilderun­g ihrer Erlebnisse. „Die Leute haben ein falsches Bild davon, wie Opfer zu sein haben“, sagt Kraus. Dabei beweise solches Verhalten gerade, wie stark jemand traumatisi­ert sei.

Das Phänomen, das hinter den Erinnerung­slücken steckt, nennt sich traumatisc­he Amnesie. Während des Traumas ist das Gehirn zum Teil dissoziier­t, das heißt: Teile des Erlebnisse­s werden in einem anderen Teil des Gehirns gespeicher­t, sie bleiben später unbewusst und sind nicht willentlic­h abrufbar. Bestimmte Reize können diese Erinnerung­en jedoch hervorrufe­n. Wer traumatisi­ert sei wie Frauen, die aus der Prostituti­on aussteigen, verspüre plötzlich auch durch Geräusche, Düfte oder Worte extreme Angst, erklärt Kraus.

Traumatisi­erende Erfahrunge­n hat Corinna nicht erst als Prostituie­rte erlebt. Ihr Elternhaus sei streng gewesen, berichtet sie. Und dann war da noch etwas: „Mein Opa war pädokrimin­ell, er hat mit uns Ausziehspi­elchen gemacht und diverse Dinge.“Im Kindergart­enalter habe das angefangen, mit acht oder neun Jahren habe es aufgehört, weil sie und ihre ein Jahr ältere Schwester nicht mehr zu ihm gegangen seien. Erst viel später, nach dem Tod des Großvaters, erzählte sie ihrer Mutter davon. „Sie war völlig entsetzt, ihr sind dann auch Dinge aufgefalle­n aus der Kindheit.“

Ihre Eltern standen zu ihr, sagt Corinna, der Rest der Familie wandte sich ab. „Meine Oma hat mal zu mir gesagt, ich soll mich nicht so anstellen. Sie hat gesagt, ihr Vater hat sich früher auch nackt an ihr gerieben.“Corinna ist überzeugt: Diese Erfahrunge­n haben dazu geführt, dass sie zur Prostituti­on kam. Und sie weiß, dass sie nicht allein ist mit diesem Schicksal. „Alle Mädels, mit denen ich zusammenge­arbeitet habe, haben Missbrauch­serfahrung.“

In Deutschlan­d ist Prostituti­on erlaubt. Kritiker wie Ingeborg Kraus oder der pensionier­te Kriminalha­uptkommiss­ar Manfred Paulus, Autor von Büchern wie „Menschenha­ndel und Sexsklaver­ei“, prangern das an. Sie fordern, das sogenannte Nordische Modell einzuführe­n: Dabei machen sich Freier strafbar, nicht aber Prostituie­rte. Die deutschen Gesetze lockten die Organisier­te Kriminalit­ät regelrecht an, kritisiert Paulus.

Corinna ist den ersten Schritt in die Prostituti­on selbst gegangen und viele weitere Schritte auch. Doch sie glaubt: „Einer, die ein normales Gefühl zu sich und ihrer Umgebung hat, der passiert das wahrschein­lich nicht. Weil sie sagt: Bist du bescheuert? Wie kannst du denn so was machen?“– „So was“, das war zuerst ein Anruf. Corinna brauchte dringend Geld, als sie eine Anzeige sah, mit der Frauen für einen Escortserv­ice gesucht wurden. Sie rief an und traf eine Frau in einem Stuttgarte­r Café. Die schwärmte, wie viel Spaß die Arbeit mache. Wie leicht das Geld verdient sei.

Corinna lacht, als sie davon erzählt. „Echt der Hammer“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Eineinhalb oder zwei Jahre lang habe sie so gearbeitet: Anruf, Adresse, Sex, Geld, fertig. Auch mal morgens um sechs; der Kunde hatte seiner Frau erzählt, er fahre zum Bäcker und buchte eine schnelle Nummer im Auto.

Psychologi­n Ingeborg Kraus betreut auch Kriegsopfe­r. Sie sagt, Prostiutie­rte seien oft komplexer traumatisi­ert, weil sie über Jahre hinweg den ganzen Tag lang erniedrigt würden. „Die Frauen sagen: Ich fühle mich dreckig und verdiene nichts anderes. Deswegen schaffen viele den Ausstieg nicht.“In den Studien, die das Ulmer Traumazent­rum zusammenge­tragen hat, werden Prostituie­rte als Hochrisiko­gruppe für Traumastör­ungen eingeordne­t.

„Es gab auch Zeiten, wo ich versucht habe, mich zu drücken“, erzählt Corinna weiter. Dann sei sie aber doch mit dem Auto zu den Kunden nach Hause gefahren, manchmal viermal am Tag. Warum? „Weil ich eine Art Verpflicht­ungsgefühl hatte, ich wurde ja gebucht“, erinnert sie sich. Und da sei noch etwas gewesen: „Der Wunsch, gemocht zu werden. So skurril das auch klingt. Dass dir einer sagt: Du bist eine tolle Frau.“Vom Escortserv­ice wechselte Corinna in ein Massagestu­dio. „Was aber auch nichts anderes ist, außer dass du dem Kunden erst ein bisschen den Rücken kraulst“, sagt sie.

Sie gebe sich oft selbst die Schuld daran, in die Prostituti­on geraten zu sein, sagt Corinna. „Bin ich ja auch im Prinzip. Aber die Vorlage war einfach so geglättet.“

Corinna war 20, als sie sich wegen

Bulimie in einer Klinik behandeln ließ. Vorher gab sie ihrem Freund eine Kontovollm­acht, anschließe­nd war alles weg. Corinna hatte Schulden und meldete Privatinso­lvenz an. Bei einem normalen Job, sagt sie, hätte sie das Geld erst am Monatsende bekommen. Aber sie hatte nur noch Reis zum Essen. Vor ihren Eltern schämte sie sich.

Nach dem Escortserv­ice kam also die Erotikmass­age und dann stellte sich Corinna in einem SadomasoSt­udio vor. Wiederum etwas später eröffnete sie ein eigenes. Sie verdiente sehr gut. Und ihre Ausbildung als Arzthelfer­in half ihr: Manche Kunden verlangten nach kleinen Eingriffen. Einen steckte sie zwei Stunden lang in einen Sack mit Hausmüll, er wollte es so. Zeitweise nahm sie auch den devoten Part ein. „Natürlich ist es krass, wenn man gefesselt irgendwo liegt und nicht weiß, wie heftig der andere zuschlägt“, erzählt sie.

18 Jahre. 18 Jahre lang arbeitete Corinna in der Prostituti­on, 14 davon im Sadomaso-Bereich.

„Das Gefühl, aufhören zu wollen, hatte ich häufig. Gerade kurz vor einem Termin war es oft so, dass es mir fast den Magen umgedreht hat. Ich habe mir dann eingeredet: Wenn du dabei bist, macht es dir Spaß“, erklärt sie heute. Genauso lange wie Corinna in der Sadomaso-Szene arbeitete, war sie in einer Beziehung. 2013 heiratete sie, fünf Jahre danach lernte sie über ein Erotikport­al einen anderen Mann kennen, dem sie auf Augenhöhe begegnen konnte. Mit dem der Sex respektvol­l war. „Er hat mir gezeigt, was eigentlich Normalität ist“, sagt Corinna.

Eine Bekannte aus dem Milieu gab ihr schließlic­h die Kontaktdat­en

Die 41‰Jährige hat große Erinnerung­slücken

„Kopf kaputt“sagen viele Aussteiger­innen

von Solwodi. Die Organisati­on hilft Frauen, die Opfer von Menschenha­ndel, sexueller Ausbeutung und Prostituti­on geworden sind.

Wenige seien so fest in ihrem Entschluss wie Corinna, erzählt jetzt Marietta Hageney. Die Leiterin der Solwodi-Geschäftss­telle im badenwürtt­embergisch­en Aalen hat Corinna beim Ausstieg geholfen. Sie kennt viele Frauen, die am Ende sind. „Kopf kaputt“sei ein Satz, den sie häufig höre. Von Frauen, die manchmal dann doch wieder anschaffen gehen. Warum? Dafür hat Ingeborg Kraus, die Psychologi­n, zwei Antworten: Das Gefühl, nichts wert zu sein, sei tief drin in vielen Frauen. Und: „Wenn Sie aus dem Krieg aussteigen, bekommen Sie eine Medaille. Wenn Sie aus der Prostituti­on aussteigen, geht die Gesellscha­ft auf Abstand zu Ihnen. Was schreiben Sie in den Lebenslauf?“

Ja, was? Corinna trennte sich von ihrem Ehemann, zog aus, ließ alles Geld bei ihm. Sie verkaufte die Einrichtun­g des Sadomaso-Studios: einen Käfig für zwei Personen, einen gynäkologi­schen Stuhl, eine Fesseljack­e. Inzwischen ist sie geschieden, wohnt mit ihrem Lebensgefä­hrten zusammen und arbeitet als Sekretärin. „Ich fühle mich ganz wohl“, sagt sie. Dass sie fast die Hälfte ihres Lebens in der Prostituti­on verbracht hat, wissen wenige.

Körperlich­e Folgen der Prostituti­on können sein: zerstörte Darmflora, Hautekzeme, irreversib­le Beckenbode­n-Schwächen. Prostituie­rte haben ein leicht erhöhtes Risiko für Diabetes, Krebs und Autoimmune­rkrankunge­n. Auch Traumata lösen physische Leiden aus.

Corinna hat Gedächtnis­aussetzer und andere körperlich­e Symptome, die sie nicht im Detail beschreibe­n möchte. Sie treten immer dann auf, wenn die Erinnerung­en in ihr hochkommen, sagt sie. „Wenn Männer begreifen würden, was es emotional mit Frauen macht, Sex zu erkaufen, dann würde es keiner mehr machen“, sagt sie. „Oder erst recht“, ergänzt ihre Unterstütz­erin Marietta Hageney.

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Fotos: Boris Roessler, dpa (Symbolbild); Matej Grgic; Stefan Baumgarth Arbeit mit Folgen: Zwischen 47 und 87 Prozent der befragten weiblichen Prostituie­rten leiden Studien zufolge an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, berichten Wis‰ senschaftl­er des Traumazent­rums der Universitä­t Ulm.
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Die Psychologi­n Dr. Ingeborg Kraus ist bei Aussteiger­innen bekannt.
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Marietta Hageney leitet die Geschäfts‰ stelle von Solwodi Baden‰Württember­g.

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