Heinrich Mann: Der Untertan (61)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten. ©Projekt Gutenberg
Sie hatten, alle drei, im Vestibül auf das Ende der Verhandlung gewartet und sich von Meta Harnisch erzählen lassen, was vorging. Frau Heßling umarmte ihren Sohn unter stummen Tränen. Die Schwestern standen etwas betreten dabei, denn noch gestern hatten sie nur Geringschätzung gehabt für Diederichs Rolle im Prozeß, die sich nun als so glänzend erwies. Aber Diederich, in der schönen Vergeßlichkeit des Siegers, ließ Wein zum Essen auftragen, und er erklärte ihnen, der heutige Tag sichere für alle Zeit ihre gesellschaftliche Stellung in Netzig. „Die fünf Damen Buck werden sich hüten, auf der Straße wegzusehen. Sie können froh sein, wenn ihr sie zurückgrüßt!“Die Verurteilung des Lauer war, so versicherte Diederich, nur mehr eine Formalität. Sie war entschieden, und mit ihr auch Diederichs unaufhaltsamer Aufstieg! „Freilich“– und er nickte in sein Glas –, „trotz voller Pflichterfüllung hätte es schiefgehen können, und dann, meine
Lieben, das wollen wir uns nur gestehen, dann wäre ich wahrscheinlich aufgeflogen und Magdas Heirat mit!“Da Magda erbleichte, klopfte er ihr den Arm. „Jetzt sind wir fein heraus.“Und das Glas erhoben, mit männlicher Festigkeit: „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!“Er ordnete an, daß beide sich schön machten und mitkämen. Frau Heßling bat um Nachsicht, sie fürchtete zu sehr die Aufregung. Diesmal konnte Diederich warten, die Schwestern durften sich anziehen, so lange sie mochten. Als sie eintrafen, waren schon alle im Saal, aber es waren nicht dieselben. Sämtliche Bucks fehlten, und mit ihnen Guste Daimchen, Heuteufel, Cohn, die ganze Loge, der freisinnige Wahlverein. Sie gaben sich besiegt! Die Stadt wußte es, man drängte sich herbei, ihre Niederlage zu erleben: das minder gute Publikum war vorgerückt bis in die vorderen Bänke. Wer von dem einstigen Klüngel sich noch hier fand, Kühnchen und Kunze trugen Sorge, daß jeder auf ihren Gesichtern die gute Gesinnung lese. Auch einige verdächtige Gestalten freilich saßen dazwischen: junge Leute mit müden, aber ausdrucksvollen Mienen, samt mehreren auffallenden Mädchen, die unheimlich schöne Farben im Gesicht hatten; und alle tauschten Grüße mit Wolfgang Buck. Das Stadttheater! Buck hatte sich nicht entblödet, sie zu seinem Plädoyer einzuladen!
Der Angeklagte wandte hastig den Kopf, sooft jemand eintrat. Er wartete auf seine Frau! ,Wenn er meint, daß sie noch kommt!‘ dachte Diederich. Aber da kam sie: noch bleicher als heute früh, begrüßte ihren Gatten mit einem Blick, der flehend war; setzte sich still an das Ende einer Bank und richtete die Augen gradaus nach dem Richtertisch, stumm und stolz, wie ins Schicksal ... Der Gerichtshof hatte den Saal betreten. Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung und erteilte das Wort dem Herrn Staatsanwalt.
Jadassohn begann sofort mit äußerster Heftigkeit; nach einigen Sätzen fand er schon keine Steigerung mehr und wirkte matt; die Mitglieder des Stadttheaters lächelten einander geringschätzig zu. Jadassohn bemerkte es, er fing an, die Arme zu schwenken, daß die Robe flog; seine Stimme überschlug sich, und die Ohren loderten. Die geschminkten Mädchen fielen auf die Brüstung ihrer Bank, so ausgelassen kicherten sie. „Merkt denn Sprezius nichts?“fragte die Schwiegermutter des Bürgermeisters. Aber das Gesicht schlief; Diederich in seinem Herzen frohlockte; er hatte seine Rache an Jadassohn! Jadassohn konnte nichts vorbringen, als womit er selbst schon das Rennen gemacht hatte! Es war gemacht, daß wußte Wulckow, und auch Sprezius wußte es, darum schlief er, mit offenen Augen. Jadassohn selbst fühlte es am besten; er nahm sich immer unsicherer aus, je geräuschvoller er ward. Als er schließlich zwei Jahre Gefängnis beantragte, gaben alle, die er gelangweilt hatte, ihm unrecht: wie es schien, auch die Richter. Der alte Kühlemann schrak auf, mit einem Schnarcher. Sprezius klappte mehrmals die Lider, um sich zu ermuntern, und dann sagte er: „Der Herr Verteidiger hat das Wort.“
Wolfgang Buck erhob sich langsam. Seine sonderbaren Freunde auf der Tribüne murmelten beifällig, was Buck, trotz Sprezius’ geschärftem Schnabel, in Ruhe abwartete. Dann erklärte er leichthin, als werde er mit allem in zwei Minuten fertig werden, daß die Beweisaufnahme ein dem Angeklagten durchaus günstiges Bild ergeben habe. Der Herr Staatsanwalt vertrete mit Unrecht die Anschauung, daß die Aussage von Zeugen, die erst infolge drohender Eingriffe in ihre eigene Existenz schlecht ausgesagt hätten, irgendeinen Wert habe. Vielmehr, sie habe den Wert, daß sie auf geradezu glänzende Weise die Unschuld des Angeklagten belege, da so viele als wahrheitsliebend bekannte Männer nur durch eine Erpressung… weiter kam er natürlich nicht. Als der Vorsitzende sich beruhigt hatte, fuhr Buck gelassen fort. Wolle man aber als erwiesen annehmen, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Äußerung wirklich getan habe, so entfalle hier doch der Begriff der Strafbarkeit; denn der Zeuge Doktor Heßling habe offen eingestanden, daß er den Angeklagten mit Absicht und Vorbedacht provoziert habe. Es frage sich vielmehr, ob nicht eben der Zeuge Heßling, durch seine provokatorische Absicht, der eigentliche geistige Urheber einer strafbaren Handlung sei, die er mit der unwillkürlichen Hilfe eines andern und unter bewußter Ausnutzung seiner Erregung vollführt habe. Der Verteidiger empfahl dem Herrn Staatsanwalt die nähere Beschäftigung mit dem Zeugen Heßling. Hier wandten viele sich nach Diederich um, und ihm ward schwül. Aber die wegwerfende Miene des Vorsitzenden ermutigte ihn wieder.
Buck machte sein Organ milde und warm. Nein, er wolle nicht das
Unglück des Zeugen Heßling, den er als das Opfer eines weit Höheren betrachte. „Warum häufen sich in diesen Zeiten die Anklagen wegen Majestätsbeleidigung? Man wird sagen: infolge solcher Vorgänge wie die Erschießung des Arbeiters. Ich erwidere: nein; sondern dank den Reden, die diese Vorgänge begleiten.“Sprezius rückte den Kopf, wetzte schon den Schnabel, zog sich aber noch zurück. Buck ließ sich nicht stören; er machte sein Organ männlich und stark.
„Drohungen und überspannte Ansprüche auf der einen Seite zeitigen Zurückweisungen auf der andern. Der Grundsatz: Wer nicht für mich ist, ist wider mich, zieht eine grelle Grenze zwischen Byzantinern und Majestätsbeleidigern.“
Da hackte Sprezius zu. „Herr Verteidiger, ich kann nicht dulden, daß Sie an Worten des Kaisers hier Kritik üben. Wenn Sie damit fortfahren, wird das Gericht Sie in Ordnungsstrafe nehmen.“
„Ich füge mich der Anordnung des Herrn Vorsitzenden“, sagte Buck, und die Worte wurden in seinem Munde immer runder und gewichtiger. „Ich werde also nicht vom Fürsten sprechen, sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm II., sondern vom Zeugen Heßling.