„Im Traum lag ich in einer Kapelle aufgebahrt“
Günther Friemel hat nach einer Corona-Infektion dem Tod in die Augen gesehen. Mehrere Wochen lang lag er im Koma. Jetzt kämpft sich der Königsbrunner zurück ins Leben und erzählt schonungslos, wie schlimm alles war
Günther Friemel aus Königsbrunn brach Anfang Dezember 2020 zusammen. Die Diagnose: Covid-19. Nach den ersten Tagen auf der Intensivstation in Schwabmünchen gaben ihm die Ärzte nur wenige Überlebenschancen. Der 73-Jährige sah sich im Traum schon aufgebahrt in einer Kapelle liegen. Er hatte unglaubliche Schmerzen. „Es war die Hölle auf Erden“, sagt der ehemalige Mitarbeiter eines Versicherungsmaklers. Nach mehreren Wochen im Koma kämpft er sich zurück ins Leben. Es ist ein neues Leben. Über seinen Weg zurück berichtet Günther Friemel im Telefon-Interview. Er liegt derzeit in der Reha-Klinik in Ichenhausen.
Herr Friemel, wie geht es Ihnen heute? Günther Friemel: Den Umständen entsprechend. Aber ich bin in Anbetracht meiner Vorgeschichte mit mir zufrieden.
Ihre Stimme ist sehr leise.
Friemel: Ja, da fehlt es noch. Demnächst entscheidet sich, ob ich hier in der Reha in eine andere Abteilung darf. Da geht es dann zum Beispiel ums Laufen. Das muss ich auch wieder lernen.
Wo befinden Sie sich im Augenblick? Im Hintergrund ist ein Piepsen zu hören… Friemel: Das ist eine Art Wachstation für Patienten, auf die ein besonderes Auge geworfen wird. Meine Körperfunktionen werden überwacht, und ich werde mit Sauerstoff versorgt. Das Virus hat mir 30 Prozent meiner Lunge genommen.
Können Sie essen?
Friemel: Nein. Ich darf weder essen noch trinken. Seit Mitte Februar werde ich über eine Sonde ernährt. Ich muss erst das Schlucken wieder lernen.
Was müssen Sie noch lernen?
Friemel: Es hapert an der Stimme. Laufen kann ich freihändig auch noch nicht. Außerdem kann ich meinen Oberkörper nicht in die Sitzstellung bringen, da fehlen mir die Muskeln. Vieles hat für mich bei null begonnen: sprechen, lesen, schreiben, laufen.
Wie begann Ihre Corona-Geschichte? Friemel: Eines Tages bekam ich Herzrhythmusstörungen. Ich wollte daraufhin zum Arzt. Der sagte am Telefon, ich solle vorbeikommen. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen.
Was ist passiert?
Friemel: Nach dem Telefonat bin ich zusammengebrochen. Ich hatte keinen Atem mehr. Der Notarzt sagte sofort, dass es nach Covid-19 aussieht. Ich wurde dann in die Wertachklinik nach Schwabmünchen gebracht, wo ich mit Unterbrechungen elf Wochen lag.
Hatten Sie vor Ihrer Infektion eigentlich Angst vor Corona?
Friemel: Nein. Ich habe das Geschehen verfolgt, habe mir deshalb aber keinen Kopf gemacht. Meine Frau war ängstlicher.
Haben Sie noch Erinnerungen an die ersten Wochen in der Klinik? Friemel: Ja, zum Teil. Was passiert ist, steht in einem Tagebuch, das an den Wertachkliniken über mich geführt wurde. Ich erinnere mich auch an wüste Träume. Jeder Horrorfilm aus dem Fernsehen ist nichts dagegen. Ich lag zum Beispiel in Pech und wurde ausgepeitscht. Ich wurde gesteinigt. Im Traum lag ich im Allgäu in einer Kapelle aufgebahrt, fertig zur Beerdigung. Der Pfarrer saß neben mir, die Glocken läuteten. Im Traum dachte ich mir: Das dauert und dauert, jetzt beeilt euch mal.
Sie haben sich selbst als Toten gesehen?
Friemel: Es war wie die Hölle auf Erden. Das alles wünsche ich nicht mal meinem ärgsten Feind.
Hatten Sie auch körperliche Schmerzen?
Friemel: Ohne Ende. Ich bin mit Morphin behandelt worden. Im Koma kam es dann wohl zu einem weiteren Zusammenbruch. Der behandelnde Arzt rief daraufhin nachts bei meiner Frau an und sagte, dass ich vermutlich nicht überleben werde.
Sie haben überlebt.
Friemel: Ja. Ich stelle mir gerade vor, wie schlimm das Ganze für meine Frau gewesen sein muss. Es kam ja noch schlimmer. Denn zwei Tage später rief der Pfarrer bei ihr an und hatte meinen Tod vermeldet. Es war aber nur eine Verwechslung.
Hat Ihnen das Tagebuch, das an den Wertachkliniken für Patienten der Intensivstation geführt wird, geholfen? Friemel: Ja, sehr. Es ist toll, was Ärzte und Pfleger geleistet haben. Bewusst habe ich das Tagebuch erst in der Reha gelesen. Damit kamen dann wieder Teile der Erinnerung.
Konnten Sie so auch Ihre schlimmen Träume verstehen?
Friemel:
Ja.
Empfinden Sie Dankbarkeit? Oder ist man sich erst einmal etwas unsicher, dass wildfremde Menschen Intimes festgehalten haben?
Friemel: Ich bin unheimlich dankbar. Ohne das Tagebuch würde vieles im Dunkeln bleiben.
In der nächsten Woche soll es in Bayern Lockerungen geben. Was sagen Sie dazu?
Friemel: Das sehe ich mit gemischten Gefühlen. Ich verstehe die Gastronomie, viele leben in Existenzangst. Ich warne aber dringend davor, dass es mit der Öffnung der Biergärten wieder allzu locker zugeht. Bitte seid vorsichtig, so schön es auch ist, draußen im Biergarten zu sitzen.
Was sagen Sie Menschen, die das Virus auf die leichte Schulter nehmen? Friemel: Ich würde von meiner Geschichte erzählen und ihnen sagen: Schaltet euer Gehirn ein. Geht vier Wochen auf eine Intensivstation und seht, wie die Menschen dort leiden. Meine Frau sagt immer, ich schaue aus wie das Leiden Christi. Ich habe 21 Kilo abgenommen, ich bin nur noch Haut und Knochen.
Sie haben einen völligen Neustart hinter sich: Was geht einem durch den Kopf, wenn man dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist? Friemel: Momentan empfinde ich nur Dankbarkeit für die Ärzte und das Krankenhauspersonal. Ohne sie wäre ich schon unter der Grasnarbe. Ich möchte schon noch ein bisschen mitspielen – ich bin ja erst 73. Ich habe eine Frau, Sohn und Schwiegertochter. Ich möchte meine Enkel aufwachsen sehen. Wenn ich darüber spreche, kommen mir die Tränen. Ich bin ein Kämpfer. Ich schaffe das.
Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, warum es ausgerechnet Sie so erwischt hat? Gibt es darauf eine Antwort?
Friemel: Darüber habe ich oft nachgedacht. Warum ich und nicht der XY, der einem nicht wohlgesinnt ist? Das ist wohl Schicksal.
Haben Sie nachverfolgt, wo Sie sich angesteckt haben?
Friemel: Ich habe mich an die Vorschriften gehalten und war eigentlich nur beim Haut- und beim Augenarzt, und beim Bäcker, um Semmeln zu holen.
Hat sich auch Ihre Frau infiziert? Friemel: Ja. Bei ihr war nach drei Tagen alles vorbei. Sie hatte Grippesymptome, hohes Fieber und Gliederschmerzen.
Was werden Sie im neuen Leben ändern?
Friemel: Meine Ess- und Trinkgewohnheiten werden sich verändern. Da muss ich kürzertreten.
Welche Wünsche haben Sie für Ihr neues Leben?
Friemel: Mehr Urlaubsreisen. Meine Zeit war fast abgelaufen, wer weiß, wie viele Jahre ich noch habe. Vielleicht mache ich etwas Unvernünftiges. Etwas Blödsinn, der mir guttut.
Der Mensch neigt dazu, dass er viele Sachen aufschiebt und sich für später vornimmt.
Friemel: Das habe ich nie gemacht. Ich habe viel erlebt und wollte sogar einmal auswandern.
Wie geht es jetzt weiter?
Friemel: Im Juli, spätestens August kann ich vielleicht nach Hause. Darauf freue ich mich. Zum Glück habe ich mit dem Virus abgeschlossen. In den nächsten sechs Monaten dürfte nichts passieren. Dann muss ich genauso wie jeder andere zum Impfen.