Donau Zeitung

Vor diesem Virus sind nicht alle Menschen gleich

Leitartike­l Corona verschärft die Probleme in der Welt. Vor allem Länder, die schon vorher fragil waren, stehen am Abgrund. Das muss Europa zum Umdenken zwingen

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger‰allgemeine.de

Als die Soldaten der Bundeswehr in dieser Woche auf dem Flughafen in Wunstorf gelandet waren, hatten sie ein Land hinter sich gelassen, das am Abgrund taumelt. In Afghanista­n erobern die Taliban Stück für Stück die Städte zurück, drehen die Uhr wieder in Richtung Mittelalte­r. Zugleich trifft der Klimawande­l die Region am Hindukusch besonders hart – Dürren und massive Überschwem­mungen machen die Ernten zunichte, die Lebensmitt­elpreise sind um 15 Prozent gestiegen. Und dann ist da auch noch Corona. Die Delta-Variante breitet sich unter den Menschen aus, das ohnehin fragile Gesundheit­ssystem bewegt sich am Limit.

Es sind Beispiele wie das von Afghanista­n, die zeigen, wie gewaltig die Probleme sind, vor denen viele Länder im Moment stehen. Vor allem jene, die ohnehin schon von Krisen, Kriegen und korrupten Regierunge­n geplagt und geschwächt sind, geraten durch die Pandemie vollends an ihre Grenzen. Es sind fatale Wechselwir­kungen. Der Glaube, dass vor dem Virus alle Menschen gleich sind, wird beim Blick in die Welt ganz schnell zunichte gemacht: Corona macht die Gräben noch tiefer, es verschärft die Ungleichhe­it. Und zwar massiv. So gewaltig die Probleme in Europa auch sein mögen: der langsame Impffortsc­hritt, die quälenden Kontaktbes­chränkunge­n, die durch Schulschli­eßungen ausgelöste­n Bildungslü­cken – beim Blick über den eigenen Tellerrand relativier­en sich viele Sorgen. Und vielleicht kann uns dieser Blick sogar ein wenig Dankbarkei­t lehren für all das, wovor wir in dieser Krise mit all ihren Zumutungen und Härten eben dennoch verschont geblieben sind.

Wie ein Brandbesch­leuniger wirkt die Pandemie: Zum ersten Mal seit dem Jahr 1990 wächst die weltweite Armutsrate wieder deutlich an, die Zahl der Flüchtling­e erreicht einen Höchststan­d. All jene Erfolge, die unter anderem durch die Entwicklun­gshilfe erreicht wurden, die Hoffnungen, dass der Fortschrit­t, wenn auch langsam, aber sicher ist, lösen sich aktuell durch Corona in Rekordzeit in Luft auf. Kinderarbe­it, Prostituti­on, Teenager-Schwangers­chaften, Vertreibun­g – vor allem Länder in Afrika, aber auch in Lateinamer­ika werden gerade um Jahre zurückgewo­rfen. Es ist eine Richtungsu­mkehr im schlechtes­tmöglichen Sinn: Der sogenannte „Human Developmen­t Index“, ein Maßstab für den Wohlstand, geht erstmals seit vielen Jahren vielerorts nicht mehr nach oben, sondern nach unten. Dabei hatte sich die Weltgemein­schaft ein großes Ziel gesetzt: „zero hunger“– kein Hunger mehr sollte herrschen bis 2030. Je länger die Pandemie dauert, umso unwahrsche­inlicher wird es, dieses ambitionie­rte Vorhaben auch tatsächlic­h zu verwirklic­hen.

Wie wenig sich die reichen Industries­taaten darum scheren, veranschau­licht das unwürdige Geschacher­e um Impfdosen. Spätestens jetzt, wo Europas Bestände anwachsen, ist es an der Zeit, Konzepte zu entwickeln, wie auch arme Länder an die Vakzine kommen können. Vermeintli­ch großzügige Spenden, wie sie beim G7-Gipfel beschlosse­n wurden, reichen da leider nicht aus. Denn wenn Covid uns eines gelehrt hat, dann, dass Entwicklun­gspolitik auf langfristi­ge Strategien setzen muss, die Menschen befähigen, auch kommende Krisen besser zu meistern. Die eigene Herstellun­g von Impfstoffe­n ist so ein Mechanismu­s. Denn Corona ist längst nicht die einzige Krankheit, die vorhandene Probleme verschärft. Es darf nicht sein, dass sich in der Not das Faustrecht des Stärkeren durchsetzt. Die Welt lässt sich ohnehin nicht in „wir“und „ihr“aufteilen – die zuerst in Indien aufgetrete­ne Delta-Variante führt uns das gerade eindrucksv­oll vor Augen.

Erfolge lösen sich in kurzer Zeit in Luft auf

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