Ägyptens Wüstentraum wird wahr
Vor den Toren Kairos lässt Präsident Abdel Fattah al-Sisi eine neue Verwaltungshauptstadt errichten. Es ist ein Projekt der Superlative. Während Kritiker darin ein Symbol der Verschwendung sehen, zeigt es vor allem eines – den wachsenden Einfluss Chinas
Kairo Aus dem Dunstschleier der Wüste östlich von Kairo sticht ein gewaltiger Rohbau hervor: Der höchste Wolkenkratzer ganz Afrikas entsteht hier, genauso wie das größte Parlamentsgebäude des Nahen Ostens. Ägypten baut mitten in der Einöde auf 700 Quadratkilometern eine neue Verwaltungshauptstadt. „Überrascht und schockiert“sei er angesichts der vielen Superlative, sagte der bekannte arabische Immobilien-Investor Farooq Syed, der erst kürzlich vor Ort war und seinen Besuch in einem YouTube-Video festhielt. Die neue Stadt, die noch keinen Namen hat, soll in Teilen bereits bis zum kommenden Jahr fertig sein – selbst die Corona-Pandemie konnte die Bauarbeiten nicht aufhalten.
Überwältigung auf der einen, Kritik auf der anderen Seite: Denn Präsident Abdel Fattah al-Sisi muss sich wegen seines Prestigeprojekts auch Großmannssucht vorwerfen lassen. Was es gewiss demonstriert, ist der wachsende Einfluss Chinas im Nahen Osten, der zu Stein, Stahl und Glas wird, 45 Kilometer vor den Toren Kairos.
Alles an der Stadt wird riesig. Die zentrale Moschee soll Platz für mehr als 100 000 Gläubige bieten und Minarette von 140 Metern Höhe erhalten; eine große christliche Kathedrale steht schon. Das neue Parlamentsgebäude, das von einer der größten Kuppeln der Welt gekrönt werden soll, nimmt dreimal so viel Platz ein wie das bisherige in Kairo. Der Flaggenmast auf dem „Platz des Volkes“soll höher sein als der bisherige Weltrekordhalter im saudischen Dschidda, der es auf 171 Meter
bringt. Investor Farooq Syed hat recht: Die Reihe der Superlative lässt einem den Atem stocken.
Ägyptens Präsident al-Sisi stellte die Pläne für das Bauvorhaben im Jahr 2015 vor, zwei Jahre nachdem er durch einen Staatsstreich gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi an die Macht gekommen war. Mit seinem Infrastrukturprojekt, das rund 250000 Menschen beschäftigt, will er die Wirtschaft ankurbeln. Die 50 Milliarden Euro teure neue Stadt gehört zum Kern eines Rahmenplans, mit dem er bis 2030 sein Land moderner machen, die Armut bekämpfen und Umweltprobleme lösen will.
Im Juli sollen die ersten Beamten in die Retortenstadt ziehen. Bis Ende des Jahres könnten 50000 Staatsdiener dort arbeiten. Al-Sisis Traumstadt bekommt Anschluss an eine neue Hochgeschwindigkeitszug-Trasse zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer, die Siemens für 2,5 Milliarden Euro bauen soll. Für mehr als 600 Millionen Euro entsteht eine Bahnverbindung nach Kairo, die zu fast 90 Prozent fertig ist, wie es heißt. Einen Flughafen bekommt die neue Verwaltungshauptstadt auch.
In Zukunft werden nach den Plänen der Behörden rund 6,5 Millionen Menschen auf 20 Wohnviertel verteilt in dieser „smart city“leben und arbeiten. „Smart“, natürlich, soll sie ebenfalls sein: Die Menschen werden schnelles Internet haben und ohne Bargeld auskommen. Für alle Dienstleistungen, Einkäufe und den Nahverkehr sollen sie mit einer einzigen elektronischen Karte zahlen können.
Eine Traumstadt eben, auf die die ägyptische Führung derart stolz ist, dass sie lange vor Fertigstellung immer wieder ausländische Gäste herumführte. Im vergangenen Jahr nahm al-Sisi zum Beispiel den französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit auf die Großbaustelle.
Die Neugründung verspricht einen Neustart, einen Aufbruch. Anders als Kairo mit seinen 20 Millionen Menschen und seinen chronisch verstopften Straßen. Es geht auch darum, etwas gegen die stark zentralisierte Besiedlung Ägyptens zu tun. Mehr als 90 Millionen der mehr als 100 Millionen Einwohner leben auf nur vier Prozent der Landesfläche. Und die Bevölkerung wächst: Jedes Jahr kommen zwei Millionen Neugeborene hinzu. Bis 2050 könnte Ägypten auf 160 Millionen Menschen anwachsen.
Bereits unter dem früheren Präsidenten Hosni Mubarak versuchten die Behörden, mit einem ehrgeizigen Projekt außerhalb Kairos auf den demografischen Wandel und seine Folgen zu reagieren. Ihre Antwort war „Neu-Kairo“, eine Siedlung, die auf fünf Millionen Menschen ausgelegt wurde. Bei der Vorstellung von al-Sisis Projekt vor sechs Jahren witzelte der zuständige
Minister daher, die zweite Neugründung sei „das neue Neu-Kairo“. Es wäre ein schlechtes Omen. Denn Mubaraks Stadt hat bis heute bloß 300000 Einwohner. Nicht gerade ein überwältigender Erfolg.
Geht es nach David Sims, einem Stadtplaner und Autor des Buches „Ägyptens Wüstenträume“, sollte sich auch al-Sisi seiner Sache nicht allzu sicher sein. Nach den milliardenschweren Investitionen werde der ägyptische Staat das Projekt zwar nicht mehr aufgeben, meint Sims. Doch es bleibe abzuwarten, ob die Ägypter tatsächlich in der neuen Stadt leben wollten.
Nach Berechnungen des staatlichen Statistikamtes muss jeder dritte Ägypter mit weniger als 1,20 Euro am Tag auskommen und gilt daher als arm. Damit stellt sich die Frage, wer sich die Neubauwohnungen in al-Sisis Traumstadt überhaupt leisten kann. In der kostet eine kleine Wohnung mehr als 50 000 Euro. Für Normalbürger unerschwinglich. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Ägypten bei unter 2400 Euro im Jahr.
Und Armut ist nur ein Problem Ägyptens und seiner Bewohner. Das Auswärtige Amt schreibt, die Lage der Menschenrechte in dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt sei „besorgniserregend“, seit 2017 gilt der Ausnahmezustand. Wegen der Corona-Pandemie warnt es vor nicht notwendigen touristischen Reisen dorthin. Zudem bestehe landesweit weiterhin ein erhöhtes Risiko terroristischer
Anschläge. Die Grenzregionen zu Libyen und dem Sudan sind Sperrgebiete.
Al-Sisi herrscht mit harter Hand. Mit Blick auf sein Mega-Bauprojekt werfen ihm Kritiker vor, er gebe Geld aus, das in der Corona-Krise für die medizinische Versorgung der Bevölkerung gebraucht werde. Ein Kolumnist merkte schon 2015 an, mit den Milliardensummen könnten die Probleme Kairos gelöst werden, ohne dass eine neue Stadt gebaut werden müsse. Auch die Vergeudung wertvoller Ressourcen wird beklagt: Künftig werden täglich allein 650 000 Kubikmeter Wasser gebraucht, um die geplanten Parkanlagen der neuen Stadt schön grün zu halten. Mitten in der Wüste.
Ursprünglich sollte das Projekt von einem Unternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten koordiniert werden, doch die Investoren stiegen kurz nach Baubeginn aus. Seitdem hat die ägyptische Armee, die in vielen Bereichen der Wirtschaft aktiv ist, zusammen mit dem Bauministerium übernommen. Al-Sisis Gastgeber bei einem Baustellenbesuch vor einigen Monaten trugen Kampfanzüge. Ein vertrauter Anblick für den Ex-General, der damals anordnete, dass alle Zeitpläne strikt einzuhalten seien.
Vor Ort und auf Videos sind hohe Baukräne zu sehen, ungezählte Arbeiter, halbfertige Hochhäuser und Apartment-Blocks. „In zwei Jahren steht hier alles“, sagt der Manager eines geplanten Wohn- und Geschäftskomplexes. Und Investor Farooq Syed: Die neue Stadt wachse aus dem Sand. „Und sie wächst sehr, sehr schnell.“
Im Januar stellten chinesische Firmen den ersten von 20 Bürotürmen fertig. Vor einigen Tagen nahm Ägyptens Bauminister Essam elGazzar am Richtfest für eines der Prachtstücke des Projekts teil: Das chinesische Unternehmen CSCEC, die größte Baufirma der Welt, arbeitet am „Iconic Tower“, der mit 385 Metern das höchste Haus Afrikas werden soll. Gazzar nannte es „das wichtigste Gebäude im modernen Ägypten“. Der „Iconic Tower“illustriert gut die Rolle Chinas. Bis 2027 will die kommunistische Volksrepublik insgesamt 9,3 Milliarden Euro in al-Sisis Stadt stecken, das wäre ein Fünftel der Gesamtkosten.
Das Engagement zählt zu den chinesischen Bemühungen, im Nahen Osten stärker Fuß zu fassen. CSCEC baut 20 Bürotürme, eine andere chinesische
Schon im Juli sollen die ersten Beamten kommen
Die Volksrepublik investiert massiv im Nahen Osten
Firma errichtet die Bahnverbindung zwischen Kairo und der neuen Hauptstadt. Laut chinesischen Medienberichten ist China außerdem der größte Investor bei der Erweiterung des Suezkanals, die ebenfalls zum Modernisierungsprogramm des ägyptischen Staatsoberhaupts gehört.
Auch andernorts ist China aktiv. Der Denkfabrik European Council on Foreign Relations zufolge hat die chinesische Regierung bisher Vereinbarungen mit 15 Ländern des Nahen Ostens. Ihr geht es um die Sicherung der eigenen Energieversorgung: Fünf der zehn größten Öllieferanten Chinas liegen in dieser Weltregion. Ihr geht es um Investitionsmöglichkeiten für Unternehmen und Banken – und um Sicherheitspolitik. 2016 hatte China im ostafrikanischen Dschibuti seine erste Militärbasis im Ausland überhaupt errichtet. Der Nahe Osten ist für die Volksrepublik ein wichtiges Scharnier zwischen Asien, Afrika und Europa.
Die weiteren Beispiele: Der Iran hat ein Grundsatzabkommen mit China geschlossen, das Teheran in den kommenden 25 Jahren Investitionen von 400 Milliarden Dollar bringen soll. In den Vereinigten Arabischen Emiraten betreibt die chinesische Reederei Cosco einen Güterhafen, im benachbarten Oman investiert China neun Milliarden Euro, in Saudi-Arabien sind Projekte mit chinesischer Beteiligung im Wert von 23 Milliarden Euro geplant. Auch in der Türkei baut China sein Engagement aus. Schon seit fünf Jahren ist Cosco zudem Haupteigner des Hafens Piräus bei Athen.
Ägypten aber hat für China eine besondere Bedeutung, weil der Suezkanal für den weltweiten Verkehr von Container-Frachtern unverzichtbar ist. Auch vor diesem Hintergrund muss man die Investitionen in al-Sisis Traumstadt betrachten. Wie sagte es Chang Weicai, der Chef von CSCEC, in Ägypten? Für das Land am Nil sei die neue Stadt „eine goldene Chance für die Wirtschaftsentwicklung“. Seine Firma freue sich, daran teilzuhaben.