Buona fortuna, Italien
Wer etwas über das Wesen einer Nation wissen möchte, beschäftige sich mit deren FußballGeschichte. Heute: die Italiener.
In Europa erzählen sich die Menschen furchtbare Dinge. Die Italiener, heißt es, seien nicht mehr das, was sie einmal waren. Das bezieht sich zunächst nur auf den Fußball, wird aber bald im ganzen Land zu spüren sein.
Früher sah italienischer Fußball so aus: Zehn Feldspieler verteidigten 90 Minuten lang ihre Ausgangslage, das 0:0. Catenaccio heißt diese Form der Spielverhinderung noch heute. Andere Formen kamen aus dem Schauspiel. War der Augenblick günstig, sank der Italiener ins Gras, wo er zu sterben drohte. War genug Zeit verstrichen, sprang der Halbtote auf und spielte weiter. Daraus resultieren vier WM-Titel für Italien.
So weit die Mischung aus Wahrheit und Dichtung. Daraus ist die Begabung der Italiener für den Film abzuleiten. Andere haben darin den Lebenskünstler entdeckt, der ohne Aufwand nach großem Ertrag strebt. Egal aber, was ein Italiener auch anstellt, es sieht immer besser aus als bei anderen.
Nun also heißt es, der Italiener habe den Catenaccio verlernt. Er läuft auch nach vorne, will Tore schießen. Dafür hat er in den vergangenen EM-Wochen viel Lob geerntet.
Wie bei allen komplizierten Beziehungsgeflechten verbindet Deutsche und Italiener eine große Zuneigung. Die Deutschen lieben die Italiener, schätzen sie aber nicht. Die Italiener schätzen die Deutschen, lieben sie aber nicht. „Sie sind keine Gegner, sondern Interpreten einer Oper, in einem Romeo und Julia des Fußballs“, schrieb Roberto Giardina in seiner „Anleitung, die Deutschen zu lieben“unter dem Eindruck des Jahrhundertspiels zwischen Deutschland und Italien bei der WM 1970 in Mexiko, das Italien in der Verlängerung 4:3 gewann.
Die Deutschen aber sind bei der EM draußen und wer hat sie für ihren Fußball auch je geliebt? Gefürchtet – das ja. Aber jetzt nicht einmal mehr das. Nun also heute Italien gegen Belgien.
Würde ein EM-Aus der Belgier einen Regierungssturz auslösen? In Italien ist mit Schlimmerem zu rechnen. Es droht der EU-Austritt. Teile der Presse, die den italienischen Fußball betreffend um nichts verlegen ist, sehen wieder einmal die Apokalypse heraufziehen. Nichts also gegen die sympathischen Belgier, die uns die besten Pommes der Welt, Königin Mathilde und Kevin de Bruyne beschert haben, aber in dieser schweren Stunde sind wir Italiener – mag der Weg in die deutsche Fußball-Hölle auch mit Namen wie Rivera, Rossi oder Balotelli gepflastert sein. Phonetische Kompositionen, die einem auch im größten Unglück wie eine Pannacotta über die Lippen gleiten und der deutschen FußballSeele dennoch die schwersten Wunden geschlagen haben.
Aber man muss auch vergeben können. Daraus entsteht mitunter größte Zuneigung. Darum für heute Abend: Buona fortuna, Italien!