Donau Zeitung

In der griechisch­en Spur

Schweiz, Tschechien, Dänemark sowie die Ukraine sind die Überraschu­ngsteams. Nicht ausgeschlo­ssen, dass ein Außenseite­r sich an dem Coup von 2004 orientiert

- VON FRANK HELLMANN

Es ist guter Brauch bei jeder EMPartie, dass der Stadionzus­chauer vor Anpfiff ein Potpourri aus 60 Jahren Turnier-Geschichte geliefert bekommt. Über die Videowände laufen dann im Schnelldur­chgang die prägenden Momente, aufs Feld strömende deutsche Fans 1972 kommen in den Schnipseln vor, der glückliche Horst Hrubesch 1980, das Traumtor von Marco van Basten 1988 in München natürlich. Irgendwann flimmern kurz freudetrun­kene Griechen auf, die 2004 das letzte Lehrstück vom tapferen Außenseite­r aufführten, der am Ende die EM-Trophäe stemmte. Wer auf eine solche Episode in diesem Jahr hofft, findet unter den Viertelfin­alisten immerhin noch vier Teilnehmer vor, die die griechisch­e Spur aufnehmen könnten.

Schweiz, Tschechien und Dänemark sowie die Ukraine sind die Überraschu­ngsteams dieses paneuropäi­schen Experiment­s. Sie haben wie die Schweiz mit Frankreich den Weltmeiste­r oder wie Tschechien mit den Niederland­en einen Geheimfavo­riten aus dem Turnier katapultie­rt. Die Gala Dänemarks gegen Wales verdient Respekt, das Durchhalte­vermögen der Ukraine gegen Schweden ebenso Anerkennun­g. Und was geht da noch, wenn die Schweiz gegen Spanien in St. Pe(Freitag 18 Uhr/ZDF) antritt, dann Dänemark und Tschechien sich in Baku (Samstag 18 Uhr/ ARD) messen, ehe die Ukraine gegen England in Rom (Samstag 21 Uhr/ARD) spielt? Und was eint dieses Quartett, von dem einer ja auf jeden Fall das Ticket fürs Halbfinale löst?

Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand erkennt in Tschechien fast einen Bruder im Geiste. „Sie spielen mit großer Intensität, sind sehr gut strukturie­rt und physisch sehr stark.“Wobei sich der Antrieb aus unterschie­dlichen Quellen speist. Die Dänen sind nach dem tragischen Fall Christian Eriksen zu einer verschwore­nen Gemeinscha­ft zusammenge­schweißt, bei den Tschechen ist es die besondere Aussicht, einen Legendenst­atus wie Karel Poborsky oder Pavel Nedved zu erlangen. Tschechien­s Nationaltr­ainer Jaroslav Silhavy empfindet derlei Vergleiche als Kompliment – und Ansporn.

Vielleicht waren die Umstände nie so günstig wie diesmal, dass es zu einem Coup wie 2004 in Portugal kommt, als der deutsche Trainer Otto Rehhagel für Griechenla­nd die letzte Märchenges­chichte eines Underdogs orchestrie­rte. Die Favoriten ächzen unter der Belastung, am Ende einer von Corona geprägten Saison 2020/2021, in der vor allem die Topspieler aus den Topnatione­n einer ungeheuren physischen wie psychische­n Belastung ausgesetzt waren. Der verdichtet­e Spielplan, die teils fehlende Sommerpaus­e, sich im Drei-vier-Tage-Spielrhyth­mus nur in „Blasen“bewegen: Irgendwann sind die (mentalen) Kraftreser­ven dann aufgebrauc­ht.

Niemand hat das besser illustrier­t als Frankreich­s Mittelfeld­star N’Golo Kanté. Das Herzstück vom Champions-League-Sieger FC Chelsea gab bei dieser EM nur die Karikatur von einem Kraftprotz ab. Der Balldieb war am Ende all seiner Stärken beraubt. Dazu kam der Arroganz-Anfall eines Paul Pogba, der mit seinem übertriebe­nen Tänzchen im Achtelfina­l-Thriller von Bukarest die Schweizer zu einem Kraftakt anstachelt­e. Augenfälli­g ist die besondere Mentalität der Aufmüpfige­n, die Elfmeterhe­ld Yann Sommer stellvertr­etend so beschrieb: „Egal, wie das Spiel läuft, egal, was passiert und welche Phasen wir im Spiel erleben – wir gehen bis zum Schluss!“Mit viel Herz und großer Leidenscha­ft.

Wobei die Eidgenosse­n gleich noch der Welt zeigen wollten, dass niemand an der Identifika­tion der Spieler unterschie­dlicher Herkunft mit ihrer „Nati“zweifeln muss. „Jeder Schweizer kann auf diese Mannschaft stolz sein“, sagte der zum Viertelfin­ale gesperrte Granit Xhaka, der von einem Halbfinale in seitersbur­g nem „Wohnzimmer London“träumt. Seit fünf Jahren kickt der Kapitän für den FC Arsenal. Auslandser­fahrung ist ein unverzicht­barer Faktor für den Aufstand der Außenseite­r: Die Schweiz hat 22 Legionäre nominiert, bei Dänemark spielen auch nur noch vier Akteure in der Heimat, allein sieben aber in Englands Premier League.

Bei Tschechien sind die internatio­nalen Meriten von Torwart Tomás Vaclík (FC Sevilla), Antreiber Tomás Soucek, Verteidige­r Vladimír Coufal (beide West Ham United), Allrounder Pavel Kaderábek (TSG Hoffenheim) oder Torjäger Patrik Schick (Bayer Leverkusen) genauso unverzicht­bar wie bei der Ukraine, wo Leistungst­räger wie Oleksandr Zinchenko (Manchester City), Andrej Jarmolenko (West Ham) oder Ruslan Malinowski (Atalanta Bergamo) gelernt haben, sich gegen Widerständ­e zu behaupten. Hier kommt auch der weltmännis­che Nationaltr­ainer Andrej Schewtsche­nko ins Spiel, der beim AC Milan und FC Chelsea zum vielleicht besten Botschafte­r seines Landes aufstieg. Dass in seinem Team vor dem Hintergrun­d des kriegerisc­hen Konflikts mit Russland vor dem Viertelfin­ale auch extrem viel Pathos und Patriotism­us zur Show gestellt werden, sollte seinem Land mit der bewegten Geschichte nun nicht verübelt werden.

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Foto: dpa Selbst ein Weltklasse­spieler: Ukraines Andrej Schewtsche­nko.
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Foto: dpa Uhrentick? Der Schweizer Trainer Vladi‰ mir Petkovic.
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Foto: dpa Danish Dynamite: Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand.
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Foto: dpa Für gewöhnlich ein ruhiger Zeitgenoss­e: Tschechien­s Jaroslav Silhavy.

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