Unvergesslicher Moment für Vargas
Bei der EM setzt sich die Schweizer Nationalmannschaft gegen Favorit Frankreich durch. Entscheidenden Anteil am Erfolg seines Teams hat der Angreifer des FC Augsburg
Ruben Vargas steht auf der Werbebande. Die Faust reckt er jubelnd gen Bukarester Himmel, die Freude bahnt sich in einem Schrei ihren Weg. Umringt ist er von jubelnden Mitspielern in weißen Trikots, ein paar Meter entfernt flippen ekstatische Fans auf der Tribüne aus. Diesen Moment wird der 22-Jährige nicht so schnell vergessen. Vielleicht sogar nie. Sekunden zuvor hat der Angreifer des FC Augsburg Historisches geschafft. Mit der Schweiz besiegte er am vergangenen Montag den großen Favoriten Frankreich. Statt Mbappé, Griezmann oder Pogba stehen nun die Schweizer bei der Fußball-EM in der Runde der letzten acht Mannschaften. Im Viertelfinale wartet ein weiterer Titelaspirant, Gegner ist am heutigen Freitag ab 18 Uhr das spielstarke Spanien.
Erstmals ist Vargas bei einem großen Turnier der A-Nationalmannschaften dabei. Sammelt Erfahrungen, die ihm in seiner Karriere helfen werden. Speziell war der Moment am Montag kurz vor Mitternacht, diese Situation lässt sich nicht simulieren. Als vierter Schweizer schreitet Vargas im Elfmeterschießen zum Punkt. Dass er zu den Schützen zählt, verdeutlicht das Vertrauen, das Trainer Vladimir Petkovic in Vargas hat. Der 22-Jährige hat Glück. Frankreichs Torwart Hugo Lloris ahnt die Ecke, ist mit der rechten Hand am Ball, kann den Treffer aber nicht verhindern. Vargas trifft zum 4:3, danach sind Kimpembe und Mehmedi erfolgreich. Der Rest ist Schweizer Geschichte: Torwart Yann Sommer wird zum Helden, Starspieler Kilian Mbappé zur tragischen Figur.
Nicht nur wegen seines verwandelten Elfmeters trägt Vargas entscheidend zu einem außergewöhnlichen Schweizer Abend bei. Als er eine Viertelstunde vor Schluss in die Partie kommt, scheint die Begegnung entschieden. 1:3 liegt der Außenseiter zurück, das EM-Aus liegt nahe. Doch der Favorit geht fahrlässig mit dem komfortablen Vorsprung um, Vargas und Co. wirbeln die französische Abwehr durcheinander. So gleichen Seferovic und Gavranovic noch zum 3:3 aus. Nach torloser Verlängerung entscheidet das Nervenspiel am Punkt.
Nach Tomas Koubek, der als Ersatztorhüter mit Tschechien im Viertelfinale steht, bleibt Vargas der zweite FCA-Profi im Turnier. Vargas erlebt im Sommer seinen sportlichen Höhepunkt, nachdem er beim FCA auf eine durchwachsene Spielzeit zurückblickt. In seinem zweiten Bundesligajahr stockte seine Entwicklung, seinen Stammplatz büßte er ein. Wegen seiner Schnelligkeit und Technik blieb er ein bedeutsamer Faktor im Augsburger Offensivspiel, doch der ehemalige Trainer Heiko Herrlich setzte lieber auf Defensive. Umschaltspieler Vargas fühlte sich in Herrlichs Verhinderungsfußball nicht wohl, ihm fehlten die Läufe in die Tiefe, in denen er seine Stärken ausspielen kann. Die Saisonstatistik des Offensivspielers: 18 Startelfeinsätze, 12 Einwechslungen, fünf Tore und drei Vorlagen.
Am vorletzten Bundesliga-Spieltag wäre der Angreifer beinahe noch zum Sündenbock geworden. Im „Endspiel“gegen den Abstieg leistet er sich in der Anfangsphase einen Aussetzer, seine Tätlichkeit gegen Bremens Theodor Gebre Selassie und der folgende Platzverweis hätten den FCA den Klassenerhalt kosten können. Entsprechend erleichtert war vor allem Vargas nach dem 2:0 und dem glücklichen Ausgang.
Vargas ist in Adlingenswil, nahe Luzern, geboren. Seine Mutter stammt aus der Schweiz, sein Vater aus der Dominikanischen Republik. Die vier Millionen Euro, die der FCA im Sommer 2019 in den Spieler investierte, dürften sich längst gelohnt haben. Und das nicht nur sportlich. Das Branchenportal Transfermarkt.de taxiert den Marktwert auf 13 Millionen Euro, hinter Felix Uduokhai (16 Millionen Euro) ist er wirtschaftlich wertvollster FCA-Profi.
Im Frühjahr wurde Vargas mit dem FC Sevilla in Verbindung gebracht, seine Auftritte während der EM dürften das Interesse anderer Klubs steigern. Als junger Nationalspieler mit Perspektive ist er begehrt, gegen Spanien bietet sich Vargas eine weitere Gelegenheit für Werbung in eigener Sache. Zumindest befindet sich der FCA bei möglichen Anfragen in einer komfortablen Lage: Der Vertrag des Schweizers läuft bis Sommer 2024.