Nun rollt die Welle der Solidarität
Während die Menschen in den Flutgebieten aufräumen, macht ein Auftritt von Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet Schlagzeilen. Über einen Katastrophen-Wahlkampf. Schicksale, die erschüttern. Und Tausende, die selbstlos helfen
Bad Münstereifel/Erftstadt Im Touristenort Bad Münstereifel sieht es am Sonntag aus wie nach einem Bombenangriff. Menschen in verdreckten Klamotten karren einen Ventilator, Bürostühle, Gartengeräte auf einen Schrotthaufen. Traktoren und Bagger fahren Schleifen, um das Geröll aus der 17000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu bringen. Strom-, Internet- und Wasserversorgung sind anfällig für Ausfälle, viel schlimmer: Es gibt mindestens fünf Tote. 30 Menschen mussten in der Nacht auf Sonntag in einer Notunterkunft schlafen, weitaus mehr stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.
„Ich weiß nicht, ob Münstereifel dasselbe Münstereifel wird, wie es vorher war. Es tut sehr weh“, sagt Marita Hochgürtel, Pressesprecherin der Stadt. Sie befindet sich in einem Büro im ersten Stockwerk des Rathauses. Das Erdgeschoss ist nicht nutzbar und das Archiv im Keller vermutlich komplett zerstört. Es waren keine Bomben, die Bad Münstereifel so übel zugerichtet haben, sondern die Erft, die – braun, dreckig und immer noch bedrohlich – an diesem Nachmittag durch die Stadtmitte fließt. Brücken hat sie ab- und mitgerissen, einen Kleinwagen an eine Ufermauer gedrückt und bis zur Unkenntlichkeit verformt. Nun, an Tag fünf nach den sintflutartigen Regenfällen vom Mittwoch, rauscht sie wenigstens nicht mehr über die Straßen.
Über 150 Menschen sind der Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und RheinlandPfalz bisher zum Opfer gefallen. Im Westen Deutschlands scheint nichts mehr, wie es einmal war.
40 Kilometer flussabwärts, in Erftstadt bei Köln, ächzt am frühen Samstagmorgen das Metall. Bundeswehr-Schwimmpanzer vom Typ Fuchs bergen Fahrzeuge, die sich auf der Bundesstraße 265 ineinander verkeilt haben wie Mikado-Stäbchen. Als sie einen Lastwagen in die Waagrechte bringen wollen, bricht der Auflader weg. Auch hier haben die Flutwellen alle überrascht.
Es liegt eine merkwürdige Stimmung über Erftstadt. Grabsteine ragen auf dem Friedhof aus der Wasser-Matsch-Brühe heraus. Auf die Außenmauern haben Menschen Kerzen gestellt. Im abgeriegelten Stadtteil Blessem tritt Gas aus, weshalb die Einsatzkräfte sämtliche Versorgungsleitungen kappen. Drei Häuser und ein Teil der Burg sind eingestürzt, die Luftaufnahme eines riesigen Kraters geht um die Welt.
In dieses Katastrophen-Szenario treten am Samstagmittag FrankWalter Steinmeier und Armin Laschet. Der Bundespräsident und der Ministerpräsident von NordrheinWestfalen verschaffen sich bei einem Rundgang einen Eindruck von der Lage, sprechen mit Betroffenen und Einsatzkräften. An den Anzugschuhen eines ihrer Personenschützer hängen Matschbatzen. Als Laschet ein Statement abgeben will, saugen die Rotoren eines Helikopters seine Stimme ein. Es ist ein schwieriger Auftritt für den Kanzlerkandidaten der Union. Plötzlich sprinten hinter ihm zwei Feuerwehrleute aus der backsteinernen Wache los, an der er eben angekommen ist. Ein Altenheim muss evakuiert werden. Statiker haben Risse im Fundament entdeckt.
Als Steinmeier den Flutopfern sein Mitgefühl bekundet und den Einsatzkräften seinen Dank ausspricht, scherzt Laschet – einige Meter hinter ihm in der Einfahrt der Feuerwache – mit Landrat Frank Rock. Dann beißt er sich mit den Zähnen auf die Zunge und grinst. Die Bürgerinnen und Bürger von Erftstadt bekommen davon kaum etwas mit. Der Ordnungsdienst schirmt die Spitzenpolitiker ab. Als sie die Wache betreten, ruft zwischen den Kamerastativen jemand: „Laschet weg!“Christoph Ludemann heißt er, Rentner aus Erftstadt. Er hat sich unter die Medienvertreter gemischt. Sein Keller sei vollgelaufen, sagt er, aber andere habe es schlimmer erwischt. Was ihn an Laschet störe? „Der ist nicht betroffen. Der will nur Punkte machen für die Kanzlerschaft.“
Die Katastrophenregion ist zum Wahlkampfgebiet geworden. Auf Twitter braut sich unter dem Hashtag #Laschetlacht etwas zusammen. Schon heißt es, Laschets Gefeixe im Rücken Steinmeiers könnten ihn und CDU/CSU den laut Umfragen greifbaren Wahlsieg kosten. Ist er geeignet für das hohe Amt? Noch am Samstag verbreitet er via Twitter, dass er den Eindruck bedauere, „der durch eine Gesprächssituation entstanden ist“.
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, und SPD-Herausforderer Olaf Scholz haben ihren Urlaub abgebrochen, um sich ebenfalls ein Bild der Lage in den Katastrophengebieten zu machen. Laschet reiste bereits am Donnerstagmorgen nach Altena in Westfalen – so spontan, dass die Stadtverwaltung davon zunächst nichts wusste.
Für Laschet, Baerbock und Scholz ist es ein Drahtseilakt. Niemand will enden wie Edmund Stoiber von der CSU, der im Bundestagswahlkampf 2002 zu lange zögerte, während SPD-Mann Gerhard Schröder schon in Gummistiefeln und Regenparka durch überflutete Dörfer an der Elbe watete. Schröder wurde wieder Kanzler. Gleichzeitig will sich niemand vorwerfen lassen, Parteipolitik auf dem Rücken der Betroffenen zu betreiben. Annalena Baerbock verzichtet bei ihren Besuchen in den Flutgebieten auf Pressebegleitung. Laschet sucht die Öffentlichkeit. Als Landesvater von Nordrhein-Westfalen hat er ohnehin keine andere Wahl. Seine Aufgabe als Krisenmanager ist es unter anderem, die Menschen zu informieren und zu beruhigen. Nicht gegen sich aufzubringen. Steinmeier, der ihn begleitet, hat es leichter. Als Bundespräsident tauschte er die Parteipolitik mit dem Staatstragenden. Entschlossen sagt er: „Den Menschen in den Regionen ist nichts geblieben außer ihre Hoffnung. Und diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen.“
Auf Hilfe der Politik können die Menschen gleichwohl nicht warten. Sie helfen sich selbst und anderen. Die Welle der Solidarität – sie ist am Ende vielleicht stärker, als es die Wellen der Erft und all der anderen Flüsschen, die zu reißenden Strömen anschwollen, waren. Allein im nahe gelegenen Bonn gingen nach einem Aufruf, Flutopfern eine Unterkunft zu stellen, Hilfsangebote für mehr als 1000 Menschen ein. Einige wollten bei sich gleich mehrere Personen aufnehmen. Hotels stellten Dutzende Doppelzimmer.
Genauso ist es in RheinlandPfalz, die Hilfsbereitschaft ist beeindruckend. Die TV- und Radiostationen berichten auch darüber in ihren Sondersendungen. Sie könnten Stunden füllen mit den Geschichten der Betroffenen und denen der Helferinnen und Helfer. Hinter jedem zerstörten Haus stehen Schicksale.
In der Rheinhalle in Remagen erfährt man von ihnen. Remagen liegt bei Sinzig, jenem Ort, der weltweit bekannt wurde, weil dort in einer Behinderteneinrichtung zwölf Bewohnerinnen und Bewohner ertranken. Feuerwehr und Rotes Kreuz haben in Remagen eine Notunterkunft eingerichtet. Innerhalb kürzester Zeit kamen Kleider- und Sachspenden. Ehrenamtliche verteilen Essen, vor allem hören sie zu. Sie treffen auf geschockte Menschen wie Herbert Wagner aus Sinzig. „Die Wasserfluten sind auf mich zugerollt und haben alles mitgerissen“, erzählt er. „Die Garage ist wie ein Pappkarton durch die Sturzflut in sich zusammengefallen. Überall Schlamm und Geröll. Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm.“Der 85-Jährige konnte nichts mehr retten, erst recht nicht den liebevoll restaurierten Oldtimer seiner verstorbenen Frau. Er ist froh, dass er nicht gestorben ist.
„Mein komplettes Leben ist abgebrochen“, sagt Gerlinde MüllerSteger. Sie hat 1962 bereits die Flutkatastrophe in ihrer Heimatstadt Hamburg miterleben müssen, als frisch verheiratete junge Frau. Vor vier Wochen war die Beerdigung ihres Mannes. „Meinen kleinen Hund habe ich aus dem Wasser gezogen, der tröstet mich in dieser schweren Zeit“, sagt sie. Wie es weitergeht? Sie weiß es nicht. Andere in der Notunterkunft erzählen von Kindern, die in der Nacht auf Donnerstag nach ihren Eltern geschrien hätten, und von den Geräuschen des anschwellenden Wassers. Sie werden das nie mehr vergessen können.
Die Geräuschkulisse in Erftstadt: ratternde Hubschrauber, heulende Sirenen, laut rufende Soldaten. Die Stadt scheint am Wochenende rein aus Hilfsfahrzeugen zu bestehen: THW-Laster, Bundeswehr-Panzer, Rettungswagen, Feuerwehrautos, Boote der DLRG und der Wasserwacht Hamburg. Bis zu 860 Einsatzkräfte, hauptberuflich und ehrenamtlich, lokal und überregional, halten das Gebiet am Samstag über Wasser. Im Wortsinn. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer noch gar nicht mitgezählt. Menschen wie Gerlinde Wirtz-Vehlen.
Etwas abseits der Feuerwache in Erftstadt lehnt die Landwirtin – das T-Shirt in ihre an den Bein-Enden vom Matsch braune Funktionshose gesteckt – an einem Baustellenfahrzeug. Auf der Ladefläche liegen zwei Wasserpumpen, ein Notstromaggregat, Schaufel, Besen, Salat, Fleisch- und Blutwurst, Pizza und genügend Getränke, um den Durst einer ganzen Fußballmannschaft zu stillen. Ihren Wohnort Oberzier, Landkreis Düren, 35 Kilometer entfernt, hat die Flut nicht erwischt.
„Wir wollten helfen, weil wir zu Hause saßen und verrückt wurden. Man fühlt sich ohnmächtig“, sagt sie. Also ist Gerlinde Wirtz-Vehlen mit ihrer Familie losgefahren, hinein in die überfluteten Stadtteile Erftstadts, auf gut Glück und zum Glück der Notleidenden, nach Friesheim, Bliesheim, Liblar. Doch überall wurden sie abgewiesen. „Wir kommen nirgendwo durch“, erzählt sie. Ein Feuerwehrmann läuft in dem Moment an ihr vorbei. „Wo können wir helfen?“, fragt sie ihn. „Überall eigentlich“, antwortet er und gibt ihnen die Adresse eines Ortes, an dem ein Einsatz läuft.
Am Sonntag hat sich die Hochwasserlage in Erftstadt etwas entspannt. Die Nerven der 50000 Einwohnerinnen und Einwohner bleiben angespannt. Von Todesopfern ist weiter nichts bekannt. Nach Angaben der Stadt wurden bei der Personenauskunftsstelle 34 Menschen gemeldet, von denen man nicht weiß, wo sie sind.
Ob die Steinbachtalsperre hält? Experten sind in Sorge. Bricht sie, würde das Wasser von der Swist in die Erft schwappen. „Und dann haben wir ein echtes Problem. Dann haben wir anderthalb Stunden Reaktionszeit, bis die Welle kommt“, sagt Elmar Mettke, Sprecher der Feuerwehr Erftstadt. Während das Wasser langsam versickert, bleiben unfassbare Schäden zurück. Sie sind am Samstag zu sehen und am Sonntag noch deutlicher.
Bei seinem Besuch kündigt Armin Laschet ein dickes Finanzpaket an: Direkthilfe für die Betroffenen, Strukturhilfe für die Kommunen. „Wir werden alles tun, dass wieder aufgebaut werden kann“, sagt er. Anschließend steigen Bundespräsident Steinmeier und er in ihre schwarzen Dienstlimousinen und fahren mit einem Kreis ausgewählter Medienleute zur Notunterkunft im Gymnasium. Zu diesem Zeitpunkt stehen vorm Rathaus fast 100 Menschen Schlange. Auf der Straße
Hat Armin Laschet seine Wahlchancen gemindert?
Auf ihren Unterarmen bildet sich eine Schlammkruste
neben ihnen eine dicke Schlammschicht. Allen Bürgerinnen und Bürgern Erftstadts wird ein Scheck über 200 Euro ausgestellt. Die ersten Finanzhilfen kommen an. Organisiert hat sie die Kommune. Am Abend erklärt Laschet in einer vorab aufgezeichneten Fernsehansprache des WDR: „Es macht mich daher wütend, wenn ich höre, dass gerade jetzt Menschen in ihre verwüsteten Häuser zurückkehren und feststellen, dass Plünderer das wenige gestohlen haben, was ihnen noch geblieben ist“. Hintergrund seines Ärgers: Nach Plünderungen in dem vom Unwetter getroffenen Eschweiler bei Aachen sitzen drei Verdächtige in Untersuchungshaft.
Gleichzeitig bekräftigt Laschet: Die Häufigkeit und die Wucht solcher Katastrophen seien auch eine Folge des Klimawandels. „Den müssen wir hier und weltweit schneller und konsequenter bekämpfen. Das Klima gewährt keinen Aufschub.“