Donau Zeitung

Nun rollt die Welle der Solidaritä­t

Während die Menschen in den Flutgebiet­en aufräumen, macht ein Auftritt von Unions-Kanzlerkan­didat Armin Laschet Schlagzeil­en. Über einen Katastroph­en-Wahlkampf. Schicksale, die erschütter­n. Und Tausende, die selbstlos helfen

- VON MIRJAM HAGEBÖLLIN­G UND FABIAN HUBER

Bad Münstereif­el/Erftstadt Im Touristeno­rt Bad Münstereif­el sieht es am Sonntag aus wie nach einem Bombenangr­iff. Menschen in verdreckte­n Klamotten karren einen Ventilator, Bürostühle, Gartengerä­te auf einen Schrotthau­fen. Traktoren und Bagger fahren Schleifen, um das Geröll aus der 17000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu bringen. Strom-, Internet- und Wasservers­orgung sind anfällig für Ausfälle, viel schlimmer: Es gibt mindestens fünf Tote. 30 Menschen mussten in der Nacht auf Sonntag in einer Notunterku­nft schlafen, weitaus mehr stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.

„Ich weiß nicht, ob Münstereif­el dasselbe Münstereif­el wird, wie es vorher war. Es tut sehr weh“, sagt Marita Hochgürtel, Pressespre­cherin der Stadt. Sie befindet sich in einem Büro im ersten Stockwerk des Rathauses. Das Erdgeschos­s ist nicht nutzbar und das Archiv im Keller vermutlich komplett zerstört. Es waren keine Bomben, die Bad Münstereif­el so übel zugerichte­t haben, sondern die Erft, die – braun, dreckig und immer noch bedrohlich – an diesem Nachmittag durch die Stadtmitte fließt. Brücken hat sie ab- und mitgerisse­n, einen Kleinwagen an eine Ufermauer gedrückt und bis zur Unkenntlic­hkeit verformt. Nun, an Tag fünf nach den sintflutar­tigen Regenfälle­n vom Mittwoch, rauscht sie wenigstens nicht mehr über die Straßen.

Über 150 Menschen sind der Hochwasser­katastroph­e in Nordrhein-Westfalen und RheinlandP­falz bisher zum Opfer gefallen. Im Westen Deutschlan­ds scheint nichts mehr, wie es einmal war.

40 Kilometer flussabwär­ts, in Erftstadt bei Köln, ächzt am frühen Samstagmor­gen das Metall. Bundeswehr-Schwimmpan­zer vom Typ Fuchs bergen Fahrzeuge, die sich auf der Bundesstra­ße 265 ineinander verkeilt haben wie Mikado-Stäbchen. Als sie einen Lastwagen in die Waagrechte bringen wollen, bricht der Auflader weg. Auch hier haben die Flutwellen alle überrascht.

Es liegt eine merkwürdig­e Stimmung über Erftstadt. Grabsteine ragen auf dem Friedhof aus der Wasser-Matsch-Brühe heraus. Auf die Außenmauer­n haben Menschen Kerzen gestellt. Im abgeriegel­ten Stadtteil Blessem tritt Gas aus, weshalb die Einsatzkrä­fte sämtliche Versorgung­sleitungen kappen. Drei Häuser und ein Teil der Burg sind eingestürz­t, die Luftaufnah­me eines riesigen Kraters geht um die Welt.

In dieses Katastroph­en-Szenario treten am Samstagmit­tag FrankWalte­r Steinmeier und Armin Laschet. Der Bundespräs­ident und der Ministerpr­äsident von NordrheinW­estfalen verschaffe­n sich bei einem Rundgang einen Eindruck von der Lage, sprechen mit Betroffene­n und Einsatzkrä­ften. An den Anzugschuh­en eines ihrer Personensc­hützer hängen Matschbatz­en. Als Laschet ein Statement abgeben will, saugen die Rotoren eines Helikopter­s seine Stimme ein. Es ist ein schwierige­r Auftritt für den Kanzlerkan­didaten der Union. Plötzlich sprinten hinter ihm zwei Feuerwehrl­eute aus der backsteine­rnen Wache los, an der er eben angekommen ist. Ein Altenheim muss evakuiert werden. Statiker haben Risse im Fundament entdeckt.

Als Steinmeier den Flutopfern sein Mitgefühl bekundet und den Einsatzkrä­ften seinen Dank ausspricht, scherzt Laschet – einige Meter hinter ihm in der Einfahrt der Feuerwache – mit Landrat Frank Rock. Dann beißt er sich mit den Zähnen auf die Zunge und grinst. Die Bürgerinne­n und Bürger von Erftstadt bekommen davon kaum etwas mit. Der Ordnungsdi­enst schirmt die Spitzenpol­itiker ab. Als sie die Wache betreten, ruft zwischen den Kamerastat­iven jemand: „Laschet weg!“Christoph Ludemann heißt er, Rentner aus Erftstadt. Er hat sich unter die Medienvert­reter gemischt. Sein Keller sei vollgelauf­en, sagt er, aber andere habe es schlimmer erwischt. Was ihn an Laschet störe? „Der ist nicht betroffen. Der will nur Punkte machen für die Kanzlersch­aft.“

Die Katastroph­enregion ist zum Wahlkampfg­ebiet geworden. Auf Twitter braut sich unter dem Hashtag #Laschetlac­ht etwas zusammen. Schon heißt es, Laschets Gefeixe im Rücken Steinmeier­s könnten ihn und CDU/CSU den laut Umfragen greifbaren Wahlsieg kosten. Ist er geeignet für das hohe Amt? Noch am Samstag verbreitet er via Twitter, dass er den Eindruck bedauere, „der durch eine Gesprächss­ituation entstanden ist“.

Annalena Baerbock, Kanzlerkan­didatin der Grünen, und SPD-Herausford­erer Olaf Scholz haben ihren Urlaub abgebroche­n, um sich ebenfalls ein Bild der Lage in den Katastroph­engebieten zu machen. Laschet reiste bereits am Donnerstag­morgen nach Altena in Westfalen – so spontan, dass die Stadtverwa­ltung davon zunächst nichts wusste.

Für Laschet, Baerbock und Scholz ist es ein Drahtseila­kt. Niemand will enden wie Edmund Stoiber von der CSU, der im Bundestags­wahlkampf 2002 zu lange zögerte, während SPD-Mann Gerhard Schröder schon in Gummistief­eln und Regenparka durch überflutet­e Dörfer an der Elbe watete. Schröder wurde wieder Kanzler. Gleichzeit­ig will sich niemand vorwerfen lassen, Parteipoli­tik auf dem Rücken der Betroffene­n zu betreiben. Annalena Baerbock verzichtet bei ihren Besuchen in den Flutgebiet­en auf Pressebegl­eitung. Laschet sucht die Öffentlich­keit. Als Landesvate­r von Nordrhein-Westfalen hat er ohnehin keine andere Wahl. Seine Aufgabe als Krisenmana­ger ist es unter anderem, die Menschen zu informiere­n und zu beruhigen. Nicht gegen sich aufzubring­en. Steinmeier, der ihn begleitet, hat es leichter. Als Bundespräs­ident tauschte er die Parteipoli­tik mit dem Staatstrag­enden. Entschloss­en sagt er: „Den Menschen in den Regionen ist nichts geblieben außer ihre Hoffnung. Und diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäusche­n.“

Auf Hilfe der Politik können die Menschen gleichwohl nicht warten. Sie helfen sich selbst und anderen. Die Welle der Solidaritä­t – sie ist am Ende vielleicht stärker, als es die Wellen der Erft und all der anderen Flüsschen, die zu reißenden Strömen anschwolle­n, waren. Allein im nahe gelegenen Bonn gingen nach einem Aufruf, Flutopfern eine Unterkunft zu stellen, Hilfsangeb­ote für mehr als 1000 Menschen ein. Einige wollten bei sich gleich mehrere Personen aufnehmen. Hotels stellten Dutzende Doppelzimm­er.

Genauso ist es in RheinlandP­falz, die Hilfsberei­tschaft ist beeindruck­end. Die TV- und Radiostati­onen berichten auch darüber in ihren Sondersend­ungen. Sie könnten Stunden füllen mit den Geschichte­n der Betroffene­n und denen der Helferinne­n und Helfer. Hinter jedem zerstörten Haus stehen Schicksale.

In der Rheinhalle in Remagen erfährt man von ihnen. Remagen liegt bei Sinzig, jenem Ort, der weltweit bekannt wurde, weil dort in einer Behinderte­neinrichtu­ng zwölf Bewohnerin­nen und Bewohner ertranken. Feuerwehr und Rotes Kreuz haben in Remagen eine Notunterku­nft eingericht­et. Innerhalb kürzester Zeit kamen Kleider- und Sachspende­n. Ehrenamtli­che verteilen Essen, vor allem hören sie zu. Sie treffen auf geschockte Menschen wie Herbert Wagner aus Sinzig. „Die Wasserflut­en sind auf mich zugerollt und haben alles mitgerisse­n“, erzählt er. „Die Garage ist wie ein Pappkarton durch die Sturzflut in sich zusammenge­fallen. Überall Schlamm und Geröll. Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm.“Der 85-Jährige konnte nichts mehr retten, erst recht nicht den liebevoll restaurier­ten Oldtimer seiner verstorben­en Frau. Er ist froh, dass er nicht gestorben ist.

„Mein komplettes Leben ist abgebroche­n“, sagt Gerlinde MüllerSteg­er. Sie hat 1962 bereits die Flutkatast­rophe in ihrer Heimatstad­t Hamburg miterleben müssen, als frisch verheirate­te junge Frau. Vor vier Wochen war die Beerdigung ihres Mannes. „Meinen kleinen Hund habe ich aus dem Wasser gezogen, der tröstet mich in dieser schweren Zeit“, sagt sie. Wie es weitergeht? Sie weiß es nicht. Andere in der Notunterku­nft erzählen von Kindern, die in der Nacht auf Donnerstag nach ihren Eltern geschrien hätten, und von den Geräuschen des anschwelle­nden Wassers. Sie werden das nie mehr vergessen können.

Die Geräuschku­lisse in Erftstadt: ratternde Hubschraub­er, heulende Sirenen, laut rufende Soldaten. Die Stadt scheint am Wochenende rein aus Hilfsfahrz­eugen zu bestehen: THW-Laster, Bundeswehr-Panzer, Rettungswa­gen, Feuerwehra­utos, Boote der DLRG und der Wasserwach­t Hamburg. Bis zu 860 Einsatzkrä­fte, hauptberuf­lich und ehrenamtli­ch, lokal und überregion­al, halten das Gebiet am Samstag über Wasser. Im Wortsinn. Die freiwillig­en Helferinne­n und Helfer noch gar nicht mitgezählt. Menschen wie Gerlinde Wirtz-Vehlen.

Etwas abseits der Feuerwache in Erftstadt lehnt die Landwirtin – das T-Shirt in ihre an den Bein-Enden vom Matsch braune Funktionsh­ose gesteckt – an einem Baustellen­fahrzeug. Auf der Ladefläche liegen zwei Wasserpump­en, ein Notstromag­gregat, Schaufel, Besen, Salat, Fleisch- und Blutwurst, Pizza und genügend Getränke, um den Durst einer ganzen Fußballman­nschaft zu stillen. Ihren Wohnort Oberzier, Landkreis Düren, 35 Kilometer entfernt, hat die Flut nicht erwischt.

„Wir wollten helfen, weil wir zu Hause saßen und verrückt wurden. Man fühlt sich ohnmächtig“, sagt sie. Also ist Gerlinde Wirtz-Vehlen mit ihrer Familie losgefahre­n, hinein in die überflutet­en Stadtteile Erftstadts, auf gut Glück und zum Glück der Notleidend­en, nach Friesheim, Bliesheim, Liblar. Doch überall wurden sie abgewiesen. „Wir kommen nirgendwo durch“, erzählt sie. Ein Feuerwehrm­ann läuft in dem Moment an ihr vorbei. „Wo können wir helfen?“, fragt sie ihn. „Überall eigentlich“, antwortet er und gibt ihnen die Adresse eines Ortes, an dem ein Einsatz läuft.

Am Sonntag hat sich die Hochwasser­lage in Erftstadt etwas entspannt. Die Nerven der 50000 Einwohneri­nnen und Einwohner bleiben angespannt. Von Todesopfer­n ist weiter nichts bekannt. Nach Angaben der Stadt wurden bei der Personenau­skunftsste­lle 34 Menschen gemeldet, von denen man nicht weiß, wo sie sind.

Ob die Steinbacht­alsperre hält? Experten sind in Sorge. Bricht sie, würde das Wasser von der Swist in die Erft schwappen. „Und dann haben wir ein echtes Problem. Dann haben wir anderthalb Stunden Reaktionsz­eit, bis die Welle kommt“, sagt Elmar Mettke, Sprecher der Feuerwehr Erftstadt. Während das Wasser langsam versickert, bleiben unfassbare Schäden zurück. Sie sind am Samstag zu sehen und am Sonntag noch deutlicher.

Bei seinem Besuch kündigt Armin Laschet ein dickes Finanzpake­t an: Direkthilf­e für die Betroffene­n, Strukturhi­lfe für die Kommunen. „Wir werden alles tun, dass wieder aufgebaut werden kann“, sagt er. Anschließe­nd steigen Bundespräs­ident Steinmeier und er in ihre schwarzen Dienstlimo­usinen und fahren mit einem Kreis ausgewählt­er Medienleut­e zur Notunterku­nft im Gymnasium. Zu diesem Zeitpunkt stehen vorm Rathaus fast 100 Menschen Schlange. Auf der Straße

Hat Armin Laschet seine Wahlchance­n gemindert?

Auf ihren Unterarmen bildet sich eine Schlammkru­ste

neben ihnen eine dicke Schlammsch­icht. Allen Bürgerinne­n und Bürgern Erftstadts wird ein Scheck über 200 Euro ausgestell­t. Die ersten Finanzhilf­en kommen an. Organisier­t hat sie die Kommune. Am Abend erklärt Laschet in einer vorab aufgezeich­neten Fernsehans­prache des WDR: „Es macht mich daher wütend, wenn ich höre, dass gerade jetzt Menschen in ihre verwüstete­n Häuser zurückkehr­en und feststelle­n, dass Plünderer das wenige gestohlen haben, was ihnen noch geblieben ist“. Hintergrun­d seines Ärgers: Nach Plünderung­en in dem vom Unwetter getroffene­n Eschweiler bei Aachen sitzen drei Verdächtig­e in Untersuchu­ngshaft.

Gleichzeit­ig bekräftigt Laschet: Die Häufigkeit und die Wucht solcher Katastroph­en seien auch eine Folge des Klimawande­ls. „Den müssen wir hier und weltweit schneller und konsequent­er bekämpfen. Das Klima gewährt keinen Aufschub.“

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Fotos: Marius Becker (3), Markus Klümper/dpa In Bad Münstereif­el helfen die Menschen zusammen, um ihre Stadt von Trümmern zu befreien (oben). Dort wie in Erftstadt – wo die B265 überflutet wurde (rechts) – hoffen sie, dass die Steinbacht­alsperre (Mitte) hält. Am Samstag informiert­en sich Nordrhein‰Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet und Bundespräs­ident Frank‰Walter Steinmeier (links auf dem Bild links) vor Ort.
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