Leiden Babys und Kleinkinder?
Im Corona-Jahr stiegen die Meldungen über misshandelte Kinder bis drei Jahre im Landkreis Dillingen um das Dreifache an. Was Jugendamt und die Leiterin des Jugendheims sagen
Dillingen Das Jugendamt hat eine sogenannte Wächterfunktion. Jeder Meldung einer möglichen Kindeswohlgefährdung, die dort eingeht, wird nachgegangen. Jedes Mal werden bei der Einschätzung der Situation die betroffenen Kinder/Jugendlichen und ihre Eltern miteinbezogen. Wie Tino Cours, Leiter des Dillinger Jugendamtes, sagte, sind 2020 insgesamt 165 Meldungen von Kindeswohlgefährdungen eingegangen. Das ist eine hohe Zahl, allerdings ist sie nicht deutlich höher als in den Vorjahren: 2018 waren es 169 Fälle, 2019 waren es 147.
Von den eingegangenen Meldungen 2020 waren insgesamt 258 Kinder betroffen. Tatsächlich wurden 56 junge Menschen als akut von Kindeswohlgefährdung betroffen eingestuft. In 44 Fällen wurde eine latente Gefährdung festgestellt. 53 Kinder und Jugendliche sind zwar nicht gefährdet, dennoch sieht das Amt einen Unterstützungsbedarf. Bei insgesamt 105 Kindern und Jugendlichen war alles in Ordnung.
Im März 2020 mit Beginn des ersten Lockdowns gab es zunächst weniger Meldungen. Das hat sich laut Geschäftsbericht, der am Montag im Jugendhilfeausschuss vorgestellt wurde, in den nachfolgenden Monaten relativiert. Was sich aber zwangsläufig änderte: Die Meldungen über Kindeswohlgefährdung kamen weniger von Schulen oder Kitas; „übermäßig viele Hinweise“stammten stattdessen von Polizei, Justiz und Nachbarn. Bis 30. Juni dieses Jahres sind bereits 77 Meldungen von Kindeswohlgefährdungen eingegangen, betroffen davon sind 123 Kinder und Jugendliche. Von 55 abgeschlossenen Fällen mit 32 Betroffenen wurde bei 15 eine akute Gefährdung festgestellt. Bei weiteren 15 ergab sich eine latente Kindeswohlgefährdung. 26 Kinder und Jugendliche sind zwar nicht gefährdet; allerdings wurde dort ein dringender Unterstützungsbedarf festgestellt. Keine Gefährdung lag bei 37 jungen Menschen vor. Aktuell sind laut Cours noch zwölf Fälle mit 30 Betroffenen in Bearbeitung.
Die Zahl der Inobhutnahmen ist im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen: von 39 auf 19 Kinder
Jugendliche. Sie wurden vorläufig, kurzfristig und kurzzeitig aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen. Die Inobhutnahme stellt das stärkste Mittel zur Abwendung von Kindeswohlgefährdung dar. Wenn die Sorgeberechtigten nicht einverstanden sind, muss das Familiengericht einbezogen werden. Auch Kinder und Jugendliche können beim Jugendamt um eine Inobhutnahme bitten.
Die meisten Meldungen über Kindeswohlgefährdungen gingen mit großem Abstand aus Dillingen (37), Wertingen (35) und Lauingen (34) ein. Die Bearbeitung jedes Falls bindet erhebliche Ressourcen beim Jugendamt, sagte Cours.
Was besonders auffällt: Während in allen Altersgruppen die Zahlen über eingegangene Meldungen schwanken, sind sie bei Säuglingen und Kindern 2020 sprunghaft auf einen neuen Höchstwert von 63 gestiegen. Höchster Wert war bis dato 38 im Jahr 2018. Auf diese Zahl sprach Stephan Borggreve, Geschäftsführer der Caritas im Landkreis Dillingen, Cours an. Dieser erklärte den Anstieg mit den vielen Geburten im Corona-Jahr. „Alle Menschen waren daheim. Da fiel das Geschrei der Babys vielleicht mehr auf. Einen größeren Hilfebedarf gab es nicht.“Eine völlig andere Erklärung sollte während der Sitzung noch folgen.
Was tatsächlich gestiegen ist, ist die Zahl seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher, die eine Eingliederungshilfe brauchen. Die Anzahl der Fälle ging um 32 Prozent von 43 auf 57 hoch. Das betrifft heilpädagogische Therapien, Schulbegleitung oder junge Menschen mit Lese- oder Rechenschwäche. Der Unterstützungsbedarf sei sehr hoch. Allein in diesem Jahr wurden 21 Anträge im Bereich der teilstationären Hilfen gestellt und angenommen. In 62 Fällen von ambulanter Hilfe finden intensive Einzelbetreuungen statt. Der Haushaltsansatz wurde bereits von 71.000 auf 217.000 Euro angehoben.
Einzelne Hilfen seien weniger geworden, doch das, so der Jugendund amtsleiter, hinge mehr mit Verordnungen durch die Corona-Pandemie zusammen als mit dem Bedarf. Einzelne Angebote konnten nicht stattfinden.
Auch die Jugendkriminalität im Landkreis ist gestiegen, die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen und Heranwachsenden stieg von 530 (2019) auf 586 (2020). Delikte wie Körperverletzung, Hausfriedensbruch oder Beleidigung sind mehr geworden. Drogen kamen nur in zwei Fällen mehr als 2019 vor. Erfreulich ist laut Cours, dass weniger Jugendliche unter 14 Jahren einer Straftat beschuldigt wurden: 42 statt 71 (2019).
Die Beurkundungen von Unterhaltstiteln, Vaterschaftsanerkennungen und des gemeinsamen Sorgerechts beschäftigen das Jugendamt immer mehr. Die Zahl solcher Beurkundungen stieg um 32 Prozent von 283 auf 374.
Noch ein Blick auf die Finanzen: 2020 beliefen sich die Ausgaben im Jugendhilfebereich auf etwa 7,9 Millionen Euro, die Einnahmen auf rund 1,8 Millionen Euro. Das entspricht einem Nettoaufwand von knapp 6,1 Millionen Euro. Für dieses Jahr waren bislang 10,3 Millionen Euro eingeplant. Doch im Bereich der sozialpädagogischen Tageshilfe seien Haushaltsansatz und ein Puffer in Höhe von 200.000 Euro schon aufgebraucht. Bei den Familienhilfen sei der Bedarf allgemein und in der Art der Hilfe gestiegen. Bewilligt sind laut Cours aktuell 25 Fälle, weitere zehn werden noch geprüft. Allein in diesem Bereich rechnet er mit einer Kostensteigerung von 45 Prozent. Kostete ein Fall bislang 15.000 Euro im Jahr, seien es inzwischen 22.000 Euro. Bei der sozialpädagogischen Familienhilfe stiegen die Kosten um 5.000 Euro pro Fall, der Haushaltsansatz stieg von 850.000 Euro auf eine Million Euro.
Daher ist Landrat Leo Schrell vorsichtig mit Prognosen über Kosten der Jugendhilfe. Der Etat wurde auf 10,4 Millionen Euro leicht nach oben korrigiert. Doch schon eine einzige Inobhutnahme werde die Kosten massiv steigern. Die Leiterin des Gundelfinger Kinderheims, Schwester Maria Elisabeth, sagte dazu: „Wir können immer nur hoffen, dass sich etwas verändert – aber es werden eher mehr Fälle. Wir haben unendlich viele Anfragen wegen kleinen und Kleinstkindern. Familien sind nicht stabiler geworden; jetzt sind sie richtig instabil“, sagte die Schwester. Ihr großes Anliegen seien die Kleinsten, nicht nur im Landkreis Dillingen würden die nicht immer gesehen. „Vielleicht hat man gehofft, dass es nicht Einrichtungen sind, die helfen, sondern andere. Aber seien Sie froh, dass Sie solche Einrichtungen im Landkreis haben. Ja, sie sind teuer, aber sie fangen viel auf. Also geben Sie das Geld gerne“, schloss die Leiterin des Gundelfinger Kinderheims.
Wenn man Kinder aus ihren Familien nehmen müsse und ihnen damit aber eine gute Zukunft ermöglichen könne, sei das sehr viel wert, entgegnete Landrat Leo Schrell. Wären präventive Maßnahmen besser messbar, könnte man dafür leichter Gelder akquirieren. „Wir sind wirklich froh über unsere Einrichtung, über das Kinderheim und dafür, dass wir Sie dort haben.“