Deshalb müssen die Wälder geschützt werden
Der Wittislinger Gemeindewald steht beispielhaft für einen Wald, der für die Herausforderungen des Klimawandels nicht gewappnet ist. Das hat auch wirtschaftliche Folgen. Müssen deshalb jetzt haufenweise Rehe sterben?
Der Klimawandel ist eine Herausforderung für die Wälder. Ein Beispiel in Wittislingen zeigt: Es muss etwas getan werden.
Wittislingen Eigentlich sollte der Wald hier dicht bewachsen sein, man sollte keine 50 Meter weit sehen können, hunderte kleine Tannen in verschiedensten Größen sollten hier unter der Alttanne im Wittislinger Gemeindewald wachsen. Stattdessen ist keiner der Sprösslinge größer als 20 Zentimeter, der Blick reicht hunderte Meter weit. Das ist ein massives ökologisches wie ökonomisches Problem, das die Gemeinde angehen will. Doch die angestrebte Lösung stößt auf Widerstand.
Die 126 Hektar Gemeindewald bestehen fast zur Hälfte aus Fichten – viele davon sind alt. Das bringt Probleme mit sich: Fichten sind auf das sich verändernde Klima nicht angepasst. Hitze verkraften die Bäume nur schwer. Das ist übrigens nicht nur in Wittislingen so: Auch in anderen Teilen des Landkreises gibt es Fichtenplantagen, die dringend durchmischt werden müssen, sagt Marc Koch, Bereichsleiter Forsten beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Nördlingen-Dillingen. Neben den vom Eschentriebsterben betroffenen Auwäldern an der Donau seien Fichtenwälder in der Region eines der Problemkinder.
Damit die Wälder auch in Zukunft ihre Funktion erfüllen können, müssen sie besser durchmischt werden. Wenn eine Baumart ausfällt, ist so noch nicht der ganze Wald am Ende. Und der soll sich im Idealfall ohne menschliches Zutun selbst erhalten. Doch viele Wälder schaffen das nicht. Aufforstung durch den Menschen klappt nur bedingt und ist teuer. Ein Problem ist, dass Rehe die Jungpflanzen anknabbern. Wildverbiss nennt sich das. Wittislingen will deshalb einen neuen Weg einschlagen – und mehr Wild schießen lassen. Kugeln für den Klimaschutz quasi.
Über diesen neuen Weg wurde vergangene Woche im Gemeindewald informiert. 50 Besucherinnen und Besucher – unter ihnen einige Jäger, Landwirtinnen und Waldbesitzer – kamen zu dem Treffen, das unter anderem auf Initiative von Zweitem Bürgermeister Ulrich Mayerle stattfand. Mit dabei waren Vertreter von Hunting for Future (HFF, zu deutsch: Jagen für die Zukunft), einem Zusammenschluss von Ökologischen Jagdvereinen, dem Bund Naturschutz und der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft.
Für die Gemeinde geht es dabei nicht zuletzt ums Geld. Bürgermeister Thomas Reicherzer erklärt, Wittislingen habe wegen teurer Aufforstungen, Einzelschutzmaßnahmen und den vielen Arbeitsstunden des Bauhofs im Wald in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 40.000 Euro Defizit erwirtschaftet. „Da fällt es auf Dauer schwer zu begründen, warum man sich das leistet“, so Reicherzer. Deshalb will die Gemeinde jetzt die Zahl der zu erschießenden Rehe im Jahr verdoppeln. Ein Vegetationsgutachten in der Hegegemeinschaft weist auf einen zu hohen Rehwildbestand hin. Reicherzer betont, ihm sei klar, dass das ein emotionales Thema sei. Aber das sei jetzt nötig. Künftig sollen im Wittislinger Wald 26 statt bisher 13 Rehe im Jahr geschossen werden. Stefan Kolonko, Jäger und Förster von HFF, verspricht sich davon mehr Biodiversität.
Der Ausflug in den Wald führt zu vier Punkten: An einer Stelle wurden zehn Jahre alte Tannen nach Entfernen des Schutzes vom Rehwild gefegt, einige sterben ab oder faulen. An einer anderen Stelle stehen oben erwähnte Alttannen, die für tausende neue Bäume sorgen sollten. Einige dutzend Meter weiter sind die Fichten längst verschwunden. Stattdessen wurden dort Buchen hinter einem Zaun nachgepflanzt. Auch sie sind verbissen. Der vierte Halt dient eher als Positivbeispiel: Dort steht eine alte Eiche. Von denen müsse man mehr pflanzen – auch wenn sie sehr anspruchsvoll seien, weil sie zur Lieblingsspeise der Rehe gehörten, sagt Kolonko.
Nicht alle sind von dem Vorschlag, mehr Rehe zu schießen, begeistert. Ein Teil der Bürgerinnen und Bürger äußert lautstark Misstrauen. Während Kolonko sagt, in weiten Teilen des Waldes gebe es keine natürliche Verjüngung, widersprechen sie. Marc Koch vom AELF erklärt: Weiter vorne im Wald, etwa nahe des Sendemasts, gebe es mehr Naturverjüngung, weil dort mehr Menschen unterwegs sind. In anderen Teilen des Walds sei das aber anders. Auch er spricht sich für den Abschuss aus. „Das hätte man längst machen müssen“, sagt er.
Warum man überhaupt auf Tannen setzen solle, will jemand wissen. Die seien für Rehe schließlich besondere Leckerbissen. Koch entgegnet darauf, dass die Tannen eben schon im Bestand seien und Samen werfen würden. So wäre die natürliche Verjüngung bereits gegeben, wären da nicht die Rehe. Es brauche aber auch andere Baumarten.
Ein Jäger bringt den rechtlichen Hintergrund ins Spiel: In Bayern schreiben Abschusspläne vor, wie viel Wild wo geschossen werden darf und soll (in Wittislingen aktuell 13 pro Jahr). Diese Pläne werden alle drei Jahre neu aufgesetzt. „Kriegt der Jäger jetzt einen Freibrief für mehr Abschuss?“Nein. Die Gemeinde will den Abschussplan gemeinsam mit dem Jagdvorstand und der Unteren Jagdbehörde im Landratsamt anpassen. Bei HFF stehen viele der Behörde kritisch gegenüber. Thomas Strehler, zuständiger Regierungsrat im Landratsamt, erklärt auf Nachfrage, die gesetzliche Aufgabe des Abschussplans sei, einen Ausgleich zwischen Waldbewirtschaftung, Wildbestand und intakter Natur zu finden. Eine Verdopplung der Abschusszahlen sei sehr hypothetisch. „Sofern eine Erhöhung unumgänglich ist, versucht man sich meist durch moderate Erhöhung der Abschusszahlen an die optimale Bestandsdichte anzunähern.“
Das Thema ist in Wittislingen auch aus anderen Gründen emotional: Die Gemeinde hat vor einigen Monaten beschlossen, die Jagd neu auszuschreiben. Der bisherige Jäger, Holger Dünzl, wollte den neuen Weg nicht mitgehen, bewarb sich erneut, erhielt die Jagd aber nicht. Dünzl findet, das Vorgehen stehe der traditionellen Jagd entgegen, die einen Wald mit Wild will. Stattdessen gehe es hier um Bekämpfung. „Bisher hat es doch auch funktioniert.“Jetzt gebe es wegen des Klimawandels plötzlich Druck von der Gesellschaft. „Und dann soll das Rehwild schuld sein.“Und: „Wald mit Wild funktioniert.“Seiner Meinung nach solle man lieber dafür sorgen, dass die Tiere weniger Stress durch Spaziergänger ausgesetzt seien. Wenn alle 200 Meter ein Weg komme, sei klar, dass die Tiere sich an bestimmten Orten versammeln und alles abknabbern. „Die Gemeinde muss sich mal entscheiden, ob man einen Freizeitwald oder einen ökonomischen Wald haben will“, sagt der Ex-Gemeinderat.