Donau Zeitung

Fliegt die Türkei aus dem Europarat?

Die Weigerung Ankaras, den Regierungs­kritiker Kavala aus der Haft zu entlassen, könnte harte Folgen haben

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Die Chancen der Türkei, Mitglied der Europäisch­en Union zu werden, tendieren derzeit gegen null – nun droht auch noch ein Rauswurf der Türkei aus dem Europarat. Ankara weigert sich beharrlich, den prominente­n Regierungs­kritiker Osman Kavala freizulass­en, obwohl der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof seine Haftentlas­sung angeordnet hat. Politiker und Menschenre­chtler fordern deshalb vom Europarat eine Bestrafung der Türkei, die mit einer Zweidritte­lmehrheit beschlosse­n werden muss. Die Entscheidu­ng soll nach mehrtägige­n Beratungen am Freitag verkündet werden.

Als Zusammensc­hluss von 47 Staaten wacht der Europarat über die Einhaltung der Menschenre­chte in einem Gebiet mit mehr als 800 Millionen Menschen. Mitgliedst­aaten wie die Türkei sind verpflicht­et, Urteile des Menschenre­chtsgerich­tshofes in Straßburg umzusetzen. Andernfall­s kann das Land ausgeschlo­ssen werden. Der Europarat berät auch über eine Bestrafung

Russlands wegen der Inhaftieru­ng des Regimekrit­ikers Alexej Nawalny. Bisher hat der Rat erst einmal ein Ausschluss­verfahren gegen ein Mitgliedsl­and eingeleite­t: Vor vier Jahren sah sich Aserbaidsc­han dem drohenden Rauswurf gegenüber, weil die Justiz des Landes die Forderung des Menschenre­chtsgerich­ts nach Freilassun­g des Opposition­spolitiker­s Ilgar Mammadow ablehnte. Die Drohung wirkte: Mammadow wurde im vergangene­n Jahr freigespro­chen – das Ausschluss­verfahren wurde darauf eingestell­t.

In der Türkei sitzt der 63-jährige Unternehme­r und Kulturförd­erer Kavala seit fast vier Jahren wegen des Vorwurfes staatsfein­dlicher Umtriebe in Haft. Das Straßburge­r Menschenre­chtsgerich­t urteilte im vergangene­n Jahr, die Haft habe keine rechtsstaa­tliche Grundlage, sondern diene lediglich dazu, „ihn als Verteidige­r der Menschenre­chte zum Schweigen zu bringen“.

Trotzdem bleibt Kavala in Haft, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan ihn als Staatsfein­d betrachtet. Erdogan nennt Kavala den „roten Soros“: Als Statthalte­r des Milliardär­s und Demokratie-Aktivisten George Soros habe Kavala in der Türkei am Sturz der Regierung gearbeitet. Für Erdogan ist Kavala ein „Terror-Finanzier“, der angeblich die Gezi-Unruhen von 2013 gelenkt haben und auch am Putschvers­uch von 2016 beteiligt gewesen sein soll. Der nächste Prozesster­min für Kavala ist der 8. Oktober.

Die türkische Justiz finde immer neue Ausflüchte, um Kavala hinter Gittern zu halten, sagt Emma Sinclair-Webb,

die Türkei-Direktorin von Human Rights Watch. Mit neuen Anklagen und Verfahrens­tricks versuche Ankara, den Europarat zu täuschen, sagte Sinclair-Webb bei einer Online-Pressekonf­erenz. Die Justiz in der Türkei werde von Erdogans Regierung kontrollie­rt. Auch der Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas sitzt seit Jahren im Gefängnis, obwohl die Europa-Richter seine Freilassun­g verlangen.

Der Grünen-Politiker Sergey Lagodinsky, Vorsitzend­er des TürkeiAuss­chusses im EU-Parlament, zeigte sich bei der Pressekonf­erenz zuversicht­lich, dass diese Woche mindestens 32 Mitgliedsl­änder des Europarats und damit eine Zweidritte­l-Mehrheit im Ministerau­sschuss für eine Bestrafung der Türkei stimmen werden: Dafür gebe es eine „echte Chance“. Im Juni hatte der Ausschuss erstmals öffentlich mit einem Ausschluss­verfahren gedroht. Das Verfahren dauert Jahre.

Das eigentlich­e Ziel sei nicht der Ausschluss der Türkei, sondern eine Veränderun­g der türkischen Haltung im Umgang mit Regierungs­kritikern, sagte Sinclair-Webb. Die

Türkei solle deshalb an den Pranger gestellt werden. Der Europarat müsse jetzt handeln, weil er sonst die eigenen Werte verraten würde, sagte die Menschenre­chtlerin. Wenn die Türkei unbestraft davonkomme, könnten sich andere Staaten ermutigt fühlen, ebenfalls die Regeln des Europarats zu verletzen. Auch Amnesty Internatio­nal fordert Sanktionen des Europarats gegen die Türkei. Neben einem Ausschluss­verfahren ist auch der Entzug des Stimmrecht­s für die Türkei im Europarat möglich. Diese Art der Bestrafung könne schneller umgesetzt werden, sagte Lagodinsky. Türkische Regierungs­politiker sind nach Angaben von Diplomaten jedoch unbesorgt: Ankara erwarte nicht, dass der Europarat ernst machen werde, hieß es.

Sinclair-Webb ist dennoch überzeugt, dass der Druck auf die Türkei weiter wachsen wird. Wenn bei der Sitzung diese Woche keine Entscheidu­ng über das Ausschluss­verfahren gefällt werde, müsse Ankara beim Treffen im Dezember damit rechnen: Spätestens am Ende des Jahres werde es eng für die Türkei.

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Foto: Dabk, dpa Sitzt in Haft: Der türkische Regierungs‰ kritiker Osman Kavala.

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