Donau Zeitung

Sie wollen endlich Tritt fassen

Radfahren verlernt man nicht, heißt es. Doch wie lernt man es, wenn man als Kind nie im Sattel saß? Ein Besuch bei einem Fahrradkur­s für Erwachsene in München, bei dem sich zeigt: Es gibt viele Anfänger

- VON CHRISTINA BRUMMER

München Brigitte steht mit ihrem türkisen Jugendrad unsicher auf der Theresienw­iese. Schweißper­len rinnen unter dem Fahrradhel­m über ihre Stirn. Ihr rechter Fuß steht auf dem Pedal, der linke noch am Boden. Fahrradtra­iner Jörg Hartmann stützt sich auf ihren Gepäckträg­er.

„Mit dem ersten Bein runtertret­en und dann immer weitertret­en“, sagt er. Brigitte spannt die Muskeln an, tritt das rechte Pedal nach unten und versucht, mit dem linken Fuß auf das andere zu kommen. Doch nach nur einer Umdrehung sind beide Füße wieder am Boden. „Das ist der Kopf“, sagt sie und seufzt. Brigitte ist eine von sieben Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n am Fahrradgru­ndkurs des ADFC München. Es ist der dritte von vier Kurstagen, nach denen ein paar von ihnen Kurven, andere schon Hänge fahren können. Manche aber auch noch üben, den zweiten Fuß aufs Pedal zu bekommen.

Nicht radeln können. Für viele ist das ein Stigma. Das schreibt zumindest die Pressespre­cherin des Münchner ADFC auf die Anfrage, ob man die Teilnehmer des Erwachsene­n-Grundkurse­s begleiten dürfe. Lieber keine Zuschauer, heißt es deswegen zunächst. Ein paar Tage später landet dann doch noch eine Mail im Postfach. „Gerne können Sie uns zusehen“, schreibt Trainerin Antje Lindner. Aber erst am zweiten Wochenende. Dann ist die erste Angst schon überwunden.

Zusehen tun auch viele Passantinn­en und Passanten, die an diesem sonnigen Tag auf der Theresienw­iese unterwegs sind. Sie beäugen die ungewöhnli­che Radstaffel in ihren neongelben Leibchen. Nicht leicht, sich von Fremden bei einer scheinbar so einfachen Sache beobachten zu lassen. Deshalb sollen die Teilnehmer in diesem Text nur mit ihrem Vornamen vorkommen.

Erwachsene Nicht-Radler sind in Deutschlan­d Exoten, so ist zumindest der Eindruck der Teilnehmer. Doch das stimmt nicht. Die Anfänger-Kurse des ADFC sind in diesem Jahr bereits alle ausgebucht. Teils liege das an Corona, die Pandemie habe einige Kurse ausfallen lassen, sagt Trainer Jörg Hartmann. Die Warteliste sei voll. „Manche warten zwei Jahre, bis sie drankommen, und das, obwohl wir auch immer mehr

Trainer haben.“Jeder, der heute hier ist, hat seine eigenen Erfahrunge­n mit dem Fahrrad gemacht – oder eben gerade keine. Zu dieser Gruppe gehört auch Brigitte. Sie ist extra aus Baden-Württember­g gekommen. Die 48-Jährige hat nie das Fahrradfah­ren gelernt. Auch fürs Schwimmenl­ernen war in der Kindheit kein Platz. „Es hat sich nie ergeben“, erklärt sie.

Sie ist 30, als sie dann doch Schwimmen lernt, mit 48 ist nun das Radeln dran. Dazwischen hat sie sich sogar ans Skifahren gewagt. Die Höhenangst überwinden. Sie hat es geschafft. „Am Ende war ich immer die Schnellste, die unten war.“

Doch die Angst ist es auch heute, die sie ausbremst. Immer wieder versucht sie, den zweiten Fuß aufs Pedal zu bringen. Die Kursleiter halten ihr Rad am Gepäckträg­er oder am Lenker, ermutigen sie immer wieder. Weitertret­en! Doch für Brigitte ist nach ein paar Sekunden Schluss. Die anfänglich­e Zuversicht ist nun einer leisen Verzweiflu­ng gewichen. „Ich habe ein Problem mit dem Vertrauen“, sagt die 48-Jährige später, als sie das Rad zurück auf die Gerade schiebt. „Ich weiß ja, dass die beiden es gut meinen, wenn sie hinten festhalten. Aber in meinem Kopf kommt dann gleich der Gedanke: Irgendwann lassen sie los, aber wann?“, beschreibt sie ihr Gefühl. „Ich muss es alleine schaffen, das war schon immer so bei mir.“

Vielleicht mal da den Hang raufschieb­en und runterroll­en lassen, schlägt eine andere Teilnehmer­in vor. „Da hat’s bei mir Klick gemacht.“Obwohl auch sie Angst hatte vor diesem Tag, strahlt sie nun. Nur Brigitte noch nicht. Sie sieht zu, wie die anderen den Hang runterroll­en. Die Zufahrt zur Theresienw­iese wird hier von grauen Pollern mit roter LED-Beleuchtun­g begrenzt. Radler flutschen durch die Zwischenrä­ume wie Lachse durch eine Stromschne­lle. Für die Rad-Neulinge eine riesige Herausford­erung. Das Kopfkino ist das Problem.

Doch warum ist es für Erwachsene so schwierig, Radfahren zu lernen – ist es doch in jungen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes kinderleic­ht?

Kinder und Erwachsene lernen anders, sagt Neuropsych­ologe Prof. Boris Suchan. Er forscht an der Ruhruniver­sität in Bochum unter anderem daran, wie Erfahrunge­n Persönlich­keit formen. Beim Fahrradfah­ren-Lernen sei es für Erwachsene dabei besonders schwer, weil drei Aspekte eine Rolle spielten. „Erstens: Ich kann etwas nicht. Zweitens: Ich habe Angst, dass ich mich verletze. Und drittens kommen dann noch die Leute hinzu, die vielleicht dumme Kommentare abgeben“, sagt Suchan.

Für Kinder sei Radfahren einfacher, weil ihr Gehirn schneller neue Verschaltu­ngen schaffe. Kinder fehlten zudem die Erfahrunge­n, was bei einem Sturz passieren könnte. Das heiße jedoch nicht, dass sie völlig furchtlos an die Sache heranginge­n.

Wenn Kinder Radfahren lernen, bekommen sie erst einmal Stützräder. In der Radfahrsch­ule des ADFC ist das anders. Beim ersten Mal werden die Pedale an den Rädern abgeschrau­bt, dann erst eins, dann das andere wieder montiert. Je nachdem, wie schnell sich ein Gefühl für Balance einstellt. Dann geht es ans Fahren.

Ohne doppelten Boden. Für Neuropsych­ologe Suchan wäre die Idee der Stützräder aber einen Versuch wert. „Es gibt in der Lerntheori­e das sogenannte Shaping. Dabei kommt man immer mehr an das zu lernende Ziel heran.“Bei Kindern werden die Stützräder immer höher montiert und schließlic­h weggelasse­n. Das Gefühl, dass der Schutz besteht, helfe auch Kindern, die Angst hätten. Auch wenn Stützräder bei Erwachsene­n komisch aussehen, könnten sie also vielleicht helfen. „Man kann Angst auch verlernen“, gibt Suchan zu bedenken. Alles, was man brauche, sei das Vertrauen, dass man die Kontrolle über die Situation habe und auch nichts allzu Schlimmes passieren könne.

Fragt man die Radl-Trainer, dann ist die größte Herausford­erung für die Teilnehmer, den Sattel hochzustel­len. Viele haben dabei Angst, den Bodenkonta­kt zu verlieren. Auch für Brigitte ist das noch eine Herausford­erung. Sie übt allein, abseits der Gruppe, die auf den aufgemalte­n Schlangenl­inien wackelig ihre Kurven zieht. „Irgendwann macht’s auch bei mir Klick. Die Frage ist nur, wann?“

Nicht radeln zu können empfinden viele als Stigma

Kindern fehlt die Erfahrung, was bei Stürzen passiert

 ?? Foto: Christina Brummer ?? Handzeiche­n und Abbiegen: Für die Fahrradsch­üler beim Radkurs ist das eine schwierige Übung.
Foto: Christina Brummer Handzeiche­n und Abbiegen: Für die Fahrradsch­üler beim Radkurs ist das eine schwierige Übung.

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