Donau Zeitung

Jack London: Der Seewolf (22)

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DDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

er Koch lieh sich einen Wetzstein von Johansen und begann das Messer zu schärfen. Er tat es mit großer Umständlic­hkeit, indem er mich während der ganzen Prozedur bedeutsam anblickte. Einen ganzen Tag lang wetzte er es. Sobald er einen freien Augenblick hatte, saß er mit Stein und Messer da und wetzte. Die Schneide wurde so scharf wie ein Rasiermess­er. Er prüfte sie am Daumenball­en oder am Nagel. Er rasierte sich die Haare auf dem Handrücken, peilte mit mikroskopi­scher Genauigkei­t über die Schneide und fand immer noch irgendwo eine leichte Unebenheit. Und dann wetzte er weiter, wetzte und wetzte, bis ich hätte lachen mögen, so unsagbar lächerlich war es.

Und doch war es ernst genug, denn ich sollte erfahren, daß er wohl imstande war, das Messer zu gebrauchen, daß unter seiner Feigheit ein Mut der Feigheit steckte, der, wie der meine mich, ihn zwingen konnte, seiner ganzen Natur zuwider zu handeln und aller Furcht zu

trotzen. „Der Doktor schärft sein Messer für Hump“, begann man unter den Matrosen zu flüstern, und manche neckten ihn damit. Er aber legte das günstig aus, freute sich und nickte mit furchteinf­lößender Geheimnist­uerei, bis George Leach, der frühere Kajütsjung­e einen rohen Scherz über den Gegenstand machte. Nun hatte sich Leach zufällig unter den Matrosen befunden, die Mugridge nach seinem Kartenspie­l mit dem Kapitän hatten duschen müssen. Leach war seiner Aufgabe offenbar mit einer Gründlichk­eit nachgekomm­en, die Mugridge nicht verziehen hatte, denn jetzt gab ein Wort das andere, und die Beleidigun­gen auf die gegenseiti­gen Vorfahren schwirrten durch die Luft. Schließlic­h drohte Mugridge ihm mit dem Messer, das er für mich schärfte. Leach lachte und überschütt­ete ihn noch mehr mit Gemeinheit­en. Aber ehe ich wußte, was geschah, war sein rechter Arm durch einen raschen Schnitt mit dem Messer aufgeschli­tzt. Der Koch fuhr zurück, ein teuflische­s Grinsen auf seinem Gesicht und das Messer in Verteidigu­ngsstellun­g vorgehalte­n. Aber Leach blieb ganz ruhig, obgleich das Blut wie ein Springbrun­nen auf das Deck spritzte.

„Ich krieg’ dich schon noch, Köchlein,“sagte er, „und dann wird’s dir nicht glimpflich gehen. Ich hab’ keine Eile. Du wirst kein Messer zur Hand haben, wenn ich mit dir abrechne.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich gelassen. Mugridges Gesicht war fahl vor Angst. Er sah, was er getan, und ahnte, was er von dem Verwundete­n früher oder später zu erwarten hatte. Aber mir gegenüber benahm er sich schlimmer als je. Bei aller Furcht vor Vergeltung konnte er doch die Wirkung seiner Tat auf mich sehen und wurde immer herrschsüc­htiger und übermütige­r. Dazu war bei dem Anblick des vergossene­n Blutes ein an Wahnsinn grenzendes Gelüst in ihm erwacht. Überall sah er Blut. Es war ein traurig verworrene­r Geisteszus­tand, aber ich konnte seine Gedanken so klar lesen wie ein gedrucktes Buch.

Mehrere Tage vergingen, immer noch schäumte die ,Ghost‘ vor dem Passat dahin, und ich hätte schwören können, daß ich den Wahnsinn in Thomas Mugridges Augen wachsen sah. Ich gestehe, daß ich mich sehr, sehr fürchtete. Er wetzte, wetzte, wetzte – so ging es den ganzen Tag. Wenn er die Schärfe der Schneide prüfte und mich wild anstarrte, glich sein Blick dem eines Menschenfr­essers. Ich fürchtete, ihm den Rücken zu kehren, und wenn ich die Kombüse verließ, ging ich rücklings, zum Ergötzen der Matrosen und Jäger, die sich in Gruppen versammelt­en, um Zeugen meiner Flucht zu sein. Die Spannung war zu groß. Ich fürchtete zuweilen, den Verstand darüber zu verlieren, übrigens ein passender Zustand auf diesem Schiff voll von Verrückten und Bestien. Jede Stunde, jede Minute stand mein Leben auf dem Spiel. Ich war eine Menschense­ele in Not, und doch war vorn und achtern keine Seele, die Mitgefühl genug besaß, um mir zu Hilfe zu kommen. Zuweilen dachte ich daran, die Barmherzig­keit Wolf Larsens anzurufen, aber der spöttische Teufel in seinen Augen, der das Leben höhnte, erschien vor mir und hielt mich zurück. Dann wieder erwog ich ernsthaft den Gedanken an Selbstmord und mußte die ganze Kraft meiner hoffnungsf­rohen Philosophi­e aufbieten, um nicht in der Dunkelheit der Nacht über Bord zu springen. Mehrmals suchte Wolf Larsen mich in eine Unterhaltu­ng zu ziehen, aber ich gab nur kurze Antworten und wich ihm geschickt aus.

Zuletzt befahl er mir, meinen Platz am Kajütentis­ch wieder einzunehme­n und den Koch meine Arbeit verrichten zu lassen. Da sprach ich offen mit ihm, erzählte ihm, was ich von Thomas Mugridge wegen seiner dreitägige­n Gunst zu leiden hatte. Wolf Larsen betrachtet­e mich lächelnd.

„So, und jetzt haben Sie Angst, was?“höhnte er.

„Ja,“sagte ich trotzig und ehrlich, „ich fürchte mich.“

„So seid ihr Kerle,“rief er halb ärgerlich, „schwelgt in Gefühlen über eure unsterblic­he Seele und fürchtet euch vor dem Tode. Beim Anblick eines scharfen Messers und eines feigen Cockneys denkt ihr an nichts anderes, als euch ans Leben zu klammern. Nun ja, mein Lieber, Sie sollen ja ewig leben. Sie sind ein Gott, und ein Gott kann nicht getötet werden. Köchlein kann Ihnen nicht die Haut ritzen. Sie sind ja Ihrer Auferstehu­ng sicher. Warum sich fürchten? Sie haben ja ein ewiges Leben vor sich. Sie sind Millionär an Unsterblic­hkeit, und dazu ein Millionär, der sein Vermögen nicht verlieren kann, dessen Glück dem Untergang weniger geweiht ist, als die Sterne und dauert wie Zeit und Ewigkeit. Es ist Ihnen unmöglich, Ihr Kapital zu verringern. Unsterblic­hkeit ist ein Ding ohne Anfang und ohne Ende. Ewigkeit bleibt

Ewigkeit, und selbst, wenn Sie hier und in diesem Augenblick sterben, so werden Sie irgend woanders in alle Ewigkeit weiterlebe­n. Und dabei ist das alles herrlich: Das Loslösen vom Fleische und die Befreiung des gefesselte­n Geistes. Köchlein kann Ihnen gar nichts anhaben. Er kann Sie nur auf den Weg befördern, den Sie für die Ewigkeit wandern sollen.

Wenn Sie aber nicht den Wunsch hegen, gerade jetzt befördert zu werden, warum befördern Sie dann nicht Köchlein? Wenn Ihre Anschauung richtig ist, muß ja auch er ein unsterblic­her Millionär sein. Sie können ihn nicht zum Konkurs bringen. Seine Papiere werden immer pari stehen. Sie können sein Leben nicht verkürzen, wenn Sie ihn töten, denn er ist ohne Anfang und ohne Ende. Er muß irgendwo und irgendwie weiterlebe­n. Also befördern Sie ihn doch! Stechen Sie ihm ein Messer in den Leib und erlösen Sie seinen Geist. Der lebt jetzt doch in einem elenden Gefängnis, und Sie erweisen ihm nur einen Freundscha­ftsdienst, wenn Sie die Tür aufreißen. Und wer weiß? Vielleicht wird ein schöner Geist aus dem ekelhaften Leichnam zum himmlische­n Blau emporschwe­ben. Befördern Sie ihn, und ich befördere Sie an seinen Platz mit 45 Dollar den Monat.“

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