Eine Pandemie im Spiegel der Jahrhunderte
Birgit Nerdinger und Hermann Müller bieten im Festsaal des Lauinger Rathauses einen beeindruckenden literarisch-musikalischen Abend
Lauingen Einen besonderen Auftakt des diesjährigen Klaviersommers erlebten die ausgewählten Besucherinnen und Besucher im Festsaal des Lauinger Rathauses. Zwei Koryphäen des Albertus-Gymnasiums, die noch aktive Klavierpädagogin Birgit Nerdinger, die erst kürzlich ein Handbuch für Lehrer und Klavierschüler herausgebracht hat, und der ehemalige stellvertretende Schulleiter Hermann Müller, hatten sich zu einer literarisch-musikalischen Stunde zusammengefunden. Hermann Müllers Sprachgewalt, sein literarisches Verständnis gepaart mit historischem Bewusstsein, ließ ein lebendiges Panorama entstehen. Birgit Nerdinger glänzte mit Klangfarben, die sie dem Blüthner-Flügel entlockte. Ravels flirrendes Kolorit, die Innigkeit beim Intermezzo von Johannes Brahms, die feinnervige Anschlagskultur bei Liszt und Franz Schubert sowie das Kokettieren mit Gärtners Wiener Walzer kennzeichneten die Soiree.
Als Moderator führte Müller in die Zeit und den Ort des Geschehens ein. Ausgehend von der heutigen Corona-Epidemie betonte der Redner, dass die Generationen früherer Jahrhunderte ebenfalls schlimme Tragödien erdulden mussten.
Chronisten und Schriftsteller berichteten über die Abläufe als Augenzeugen. Aus deren Darstellungen seien Schmerz, Leid, Trauer, Verlust aber auch Trost, Hoffnung und Vertrauen in das Leben zu erkennen gewesen. Das verdeutlichte Müller am Beispiel der Pest. Der Chronist aus Florenz, Baldassarre Bonaiuti, beschrieb als 42-Jähriger die verheerenden Auswirkungen der Pest im Jahre 1348, die sich, als er zwölf Jahre alt war, zugetragen haben. Selbst die Haustiere blieben nicht verschont. Es gab bald keinen Arzt mehr, Leute verhungerten, Tote wurden in Gruben bestattet. Trotzdem gab es Profiteure, vor allem nach Ende der Pandemie. 96.000 Tote waren in Florenz zu beklagen.
Der Autor Samuel Pepys listet in seinen Tagebüchern auf, was in seiner Heimatstadt London von Juni bis Dezember 1665 geschah. Müller trug in Ausschnitten vor, wie sich das gesellschaftliche Leben veränderte; die
Straßen waren nur noch von armen Leuten bevölkert, keine Boote fuhren auf der Themse, Ärzte und Apotheker fehlten und der Autor bekam selbst Fieber, machte sein Testament
– aber überlebte. Die dritte Pest-Station war Oran im Algerien der Neuzeit. Der Franzose Albert Camus betrachtete die Pandemie mehr als Metapher und Allegorie. Ihn interessierte, wie es den Menschen nach dem Verlauf der Pest erging, was die Krankheit aus ihnen gemacht hat und welche Erkenntnisse daraus abgeleitet werden können.
Im vielleicht zu weit geöffneten Flügel konnte Birgit Nerdinger ihre große Musikalität und absolut sichere Technik entfalten. Feinste Nuancen und ein klar artikuliertes Verständnis für die Hochromanik zeigte Birgit Nerdinger im Intermezzo op. 118 in es-Moll von Johannes Brahms. Ihr Anschlag, die dynamischen Abstufungen, die rhythmisch pointierte Straffheit gaben dem Werk Profil. Wunderbare Klänge voller Transparenz erzielte die Pianistin mit den „Tröstungen“, den „Consolations“Nr. 3 von Franz Liszt. Ihre Gestaltung der gebrochenen Akkorde als Grundlage der schönen Melodie, später die Terzen, die kleine Kadenz, das verlöschende Ausatmen gelangen beispielhaft. Als eine Stimmung der romantischen Nacht deutete Nerdinger das Ges-Dur Impromptu von Franz Schubert. Der Wiener Tanz nach Motiven von Eduard Gärtner, komponiert von Ignaz Friedmann, bereitete Publikum und Pianistin großen Spaß. Nerdinger sprühte über vor Eleganz; sie bot ein exquisites Changieren zwischen Volkston und Poesie. Die Veranstaltung wird am Sonntag, 19. September, um 17 Uhr im Rathaussaal wiederholt.
Die Veranstaltung wird am Sonntag wiederholt