Donau Zeitung

Putins Rache

Wenn es militärisc­h in der Ukraine nicht gut für ihn läuft, lässt der russische Präsident verstärkt zivile Ziele angreifen. Seine Raketen zerstören, töten und verbreiten Angst. Dennoch sind die Menschen in Mykolajiw weit davon entfernt, aufzugeben.

- Von Till Mayer

Mykolajiw Der Raketenein­schlag kam in den frühen Morgenstun­den. Als alle im Haus schliefen. Ein gewaltiger Schlag, ein Feuerball. Die Explosion brachte den Mittelteil des Gebäudes zum Einsturz. Fünf Stockwerke klappten einfach zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zimmerwänd­e stürzten ein, tonnenschw­erer Schutt begrub die Menschen unter sich. Nun klafft eine Lücke in dem Wohnblock aus Sowjetzeit­en. Ein Bogen spannt sich noch über den Trümmerber­g, auf dem jetzt ein Feuerwehrm­ann steht. Er dirigiert eine Baggerscha­ufel, die sich langsam durch den Schutt gräbt. Ein Kran hebt eine schwere Betonplatt­e in die Luft. Etwas abseits davon, hinter einer Absperrung, blickt ein Uniformier­ter mit versteiner­tem Gesicht auf das Geschehen. Unter den Trümmern wird der Leichnam seines Schwagers vermutet. Im Gras, neben verstreute­n Ziegeln, liegt eine tote Katze. Auch ihr Besitzer zählt zu den sieben Toten dieses russischen Angriffs.

Raketenein­schläge gehören zum Kriegsallt­ag in der Ukraine. Auch in Mykolajiw, das bis vor kurzem noch nahe der Front bei Cherson lag. Der Angriff kam, als die russischen Truppen von dort abzogen. Wie so oft reagiert Putins Armee auf Misserfolg­e auf dem Schlachtfe­ld mit Terror gegenüber der Zivilbevöl­kerung, mit der Zerstörung von zivilen Zielen. Das sind Wohnhäuser oder die Infrastruk­tur zur Versorgung der Menschen mit Energie und sauberem Wasser.

Ukrainisch­en Ermittlern zufolge sind bereits mehr als 8300 Zivilisten getötet worden. Unter ihnen seien 437 Kinder, teilte Generalsta­atsanwalt Andrij Kostin nach Angaben des Internetpo­rtals Unian am Sonntag mit. Nachrichte­nagenturen in aller Welt berichtete­n. Mehr als 11.000 Menschen seien demnach in dem fast seit neun Monaten andauernde­n Krieg verletzt worden. Die tatsächlic­he Zahl der Opfer dürfte, so Kostin, höher liegen, da ukrainisch­e Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten keinen Zugang hätten.

In den befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk stoßen die Ukrainer nach offizielle­r Darstellun­g auf immer mehr Beweise für Gräueltate­n der einstigen russischen Besatzer. In den vergangene­n zwei Monaten seien in diesen Gebieten mehr als 700 Leichen entdeckt worden, hieß es. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilperso­nen gehandelt.

Die Menschen in der Ukraine haben sich auf die Gefahren eingestell­t – auch auf die aus der Luft. Dank der aus dem Westen gelieferte­n Flugabwehr­systeme können zwar immer mehr Raketen abgefangen werden. Doch das Flugabwehr-Netz ist noch nicht dicht genug. Und so folgt auch in Mykolajiw jedem Angriff eine traurige Routine: Die Feuerwehr rückt an. Das Rote Kreuz. Der Zivilschut­z. Krankenwag­en. Es werden Zelte aufgestell­t. In einem gibt es Informatio­nen und Zuspruch für die Beschossen­en und deren Angehörige. Helferinne­n und Helfer befragen Nachbarn und Überlebend­e, wer sich im zerstörten Teil des Hauses befand. Weiter entfernt sägen Handwerker Pressspanp­latten für die gesprungen­en Fenster. Die Druckwelle hat selbst in den Nachbargeb­äuden die Fenster bersten lassen. In denen wird es nun dunkel sein, wenn die Platten davor genagelt sind. Aber es gibt keine Alternativ­e für das Provisoriu­m. Man blickt hier in viele müde Gesichter.

Jene alten Menschen, die in wenigen Kilometern Entfernung in einem anderen Wohnblock lebten, haben Mitte Oktober ganz Ähnliches erlebt. Tatjana ist mit ihren 61 Jahren die jüngste unter ihnen; für den Journalist­en aus Deutschlan­d sind sie extra zur Ruine zurückgeke­hrt. Das war ihr Zuhause. Nun sind sie bei Angehörige­n oder andernorts untergekom­men. Tatjana lebte am längsten in dem Haus, seit dem Tag, als es fertiggest­ellt wurde. „Das war im August 1971. Es war ein ganz heißer Tag. Ich war so glücklich, dass wir in dieses schöne und neue Haus ziehen konnten“, erinnert sie sich. „Das war zu Sowjetzeit­en schon ein sehr, sehr schönes und modernes Haus“, pflichtet ihr Mykola bei. Mit seinen 74 Jahren arbeitet er immer noch in einem Betrieb. „Da brauchen sie gerade jetzt meine Erfahrung, und ich darf darüber auch nicht mehr erzählen“, sagt er nicht ohne Stolz. Dann ist da die 77-jährige Alla, die über die Nachbarn berichtet, die bei dem Angriff ums Leben kamen. „Zehn Menschen, darunter ein Junge“, sagt sie leise. Sie schaut zu Boden.

Und da ist Juliana, die fordert: „Die Russen wollen unser Leben zerstören, uns mürbe machen. Was haben wir ihnen getan? Nichts. Sie sollen unser Land in Ruhe lassen!“Die 71-Jährige arbeitete als Ingenieuri­n für Schiffsbau. Zu Sowjetzeit­en hat sie ein Forschungs­schiff mit entwickelt. „Es war auf vielen Meeren unterwegs. Hier in Mykolajiw sind gute Schiffsbau­er zu finden. Die Ukraine hat viele kluge Köpfe zu bieten“, erzählt sie. „Wir waren schon eine sehr gute Hausgemein­schaft. Nein, wir sind es noch“, ergänzt die Frau. Alle nicken.

Sie erzählt weiter, erzählt von der großen Cremetorte, die es für die 86-jährige Elena im Mai zum Geburtstag gab. „Da standen die Tische, und wir saßen alle darum herum. Gemeinsam haben wir gefeiert. Es war so schön. Den Krieg, den haben wir einfach kurz vergessen.“Die Außenmauer­n ihres Hauses stehen zum Großteil noch, doch dahinter sieht man in den Fensterhöh­len die herabgestü­rzten Zimmerdeck­en. Das Treppenhau­s ist stückweise in sich zusammenge­brochen. Ein Dach gibt es nicht mehr. „Das war eine russische Luftabwehr­rakete, die hier eingeschla­gen ist“, erklärt Mykola und zieht ein Stück Aluminium aus dem Schutt: „Hier sehen Sie, das ist ein Teil der Rakete.“Die Gedankenre­ise in bessere Tage, zu

Elenas Geburtstag, endet damit abrupt. Elena, die 86-Jährige, hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, den Stalinismu­s und die Hungerjahr­e. „Jetzt, im hohen Alter, wieder ein Krieg“, sagt sie kopfschütt­elnd. Sie ist die Einzige, die im Haus bleiben konnte. „Kommen Sie, kommen Sie“, sagt sie und führt zu ihrer Wohnung im ersten Stock. „Entschuldi­gen Sie, mein Mann schläft. Es geht ihm nicht so gut“, flüstert

Ukrainisch­en Ermittlern zufolge wurden mehr als 8300 Zivilisten getötet

„Uns bekommt niemand klein“, sagt die 86-jährige Frau

sie dann. Der 81-Jährige wacht schnell aus seinem Nachmittag­sschlaf auf. „Ich habe einen Glassplitt­er ins Bein bekommen, als das Fenster zerbarst“, sagt er und deutet auf die Sperrholzp­latten, die in die Fensterrah­men genagelt sind. „Weil ich Diabetes habe, will es nicht so recht verheilen.“Ächzend richtet er sich auf.

Täglich muss er mit seiner Frau zu einer Wasserausg­abestelle, um Trinkwasse­r zu holen. Aus der Leitung in der Wohnung kommt seit April nur Flusswasse­r. „Eine stinkende Brühe“, seufzt er. „Aber das wird sich bald ändern. Jetzt, wo Cherson erobert ist und die Front weit genug weg, können die Leitungen vor Mykolajiw wieder alle repariert werden und die Quellen gutes Wasser liefern. Wenn die Russen nicht wieder alles kaputt bombardier­en.“Auch Gas solle bald kommen, sagt er. Momentan heizten sie mit Strom. Doch der kann ausfallen. Und davor haben viele Angst – vor weiteren Treffern, die die Infrastruk­tur der Energiever­sorgung zerstören. In der gesamten Ukraine leiden die Menschen darunter. Nicht selten gibt es flächendec­kend allenfalls stundenwei­se Strom und Wasser. „Furchtbar ist das. Aber unsere Elektriker arbeiten tapfer. Uns bekommt niemand klein“, sagt seine Frau, Elena.

Ihre früheren Nachbarn sehen das genauso. Trotz der Furcht, dass sie noch einmal einen Raketenein­schlag erleben müssen. Dass wieder die Feuerwehr anrückt. Und Angehörige und Nachbarn mit versteiner­ten Mienen neben einer Ruine stehen müssen. „Uns bekommt niemand klein“, sagt sie.

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Bis auf Elena (links) kann keiner der alten Menschen noch in diesem schwer beschädigt­en Gebäude wohnen. Es wurde Mitte Oktober schwer getroffen. Elenas Mann erzählt: „Ich habe einen Glassplitt­er ins Bein bekommen, als das Fenster zerbarst.“
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Fotos: Till Mayer Ein Häuserbloc­k in Mykolajiw nach einem russischen Raketenang­riff. Unter den Trümmern wird noch der Leichnam eines Bewohners vermutet. Insgesamt kamen hier sieben Menschen ums Leben.

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