Der „Wutwinter“in Bayern bleibt aus, aber die Proteste setzen sich fort
Die Gegner der Corona-Maßnahmen gehen weiter auf die Straße, suchen sich aber neue Themen. Und es wird nicht nur demonstriert. Vor allem im Netz entlädt sich der Ärger.
Die Demonstrierenden trommeln, tröten, singen. Ein Mann schwenkt die Fahne der ehemaligen DDR, wenige Meter dahinter halten drei Demonstrierende herzförmige Pappschilder der AfD in die Höhe. „Unser Land zuerst“steht darauf. Oder: „Gesund ohne Zwang“. Etwa 380 Menschen waren es, die nach Angaben der Polizei vor einigen Tagen durch Augsburg gezogen sind. Deutlich weniger als zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie.
Es war unter anderem die AfD, die bundesweit einen „heißen Herbst“ausgerufen hatte. Auch die Linke warb unter diesem Schlagwort für Demonstrationen. Die Parteien forderten die Bürgerinnen und Bürger auf, gegen hohe Energiepreise auf die Straße zu gehen. Der Ton – vor allem in den sozialen Medien – ist scharf. Klar ist auch: So bald werden die Proteste wohl nicht abebben. Aber die Zahl der Protestierenden bleibt überschaubar, der „heiße Herbst“höchstens lauwarm.
Die Häufigkeit von Demonstrationen in Augsburg bewege sich aktuell auf dem gleichen Niveau wie vor einem Jahr, heißt es von der Polizei. Damals waren etwa 500 Demonstrationen angemeldet. Zu den Protesten kamen zuletzt aber weniger Menschen. „Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl der jeweiligen Teilnehmer deutlich“, sagt Markus Trieb, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Schwaben-Nord.
Ähnlich ist die Entwicklung im Süden der Region. Lediglich im September habe man einen leichten Anstieg festgestellt. „Auch beim Teilnehmerfeld handelt es sich meist um einen gleichbleibenden Personenkreis“, sagt die Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West, Isabel Schreck. „Die Themenbereiche wurden ausgeweitet und reichen mittlerweile von Corona-Themen über den Russland-Ukraine-Konflikt und der Gasmangellage bis zur Wohnungsnot und der hohen Inflation.“Die Demonstration in Augsburg war dabei die größte in der Region. Weitere Schwerpunkte im Umland sind laut Polizeipräsidium Schwaben Süd/West NeuUlm, Kempten und Memmingen.
Zum Protest in Augsburg hatte das Bürgerforum Schwaben aufgerufen. Der Verein organisierte zuvor bereits die Corona-Proteste in der Stadt. Doch obwohl die Organisatoren und viele der Teilnehmenden dieselben sind, zeigt sich auch hier: Das Themenfeld hat sich gewandelt. Weg von Corona, hin zum Krieg in der Ukraine, zu den Energiepreisen, zur Klimapolitik. „Frieden schaffen ohne Waffen“stand auf einem der Banner, „für bezahlbare Energie“oder „Deutschland zuerst“.
Diesen Wandel beobachtet auch der bayerische Verfassungsschutz. „Aufgrund des derzeit in der Ukraine stattfindenden Angriffskrieges durch Russland sind auch in Bayern Reaktionen und Aktionen extremistischer Szenen auf die Folgen dieses Krieges festzustellen“, sagt Florian Volm, Pressesprecher des bayerischen Verfassungsschutzes.
„Dabei stellen nicht nur das Kriegsgeschehen in der Ukraine, sondern auch dessen Auswirkungen, wie der Gaspreisanstieg und die hohe Inflationsrate, Themen dar, die durch die extremistischen Szenen aufgegriffen werden.“Er betont, dass friedliche Demonstrationen ausdrücklich durch das Grundgesetz geschützt sind, sagt aber auch: „Über die bewusste Instrumentalisierung dieser Themen versuchen Extremisten,
Anschluss in nicht extremistische Milieus zu finden, ihre Narrative zu verbreiten und für Protestveranstaltungen zu mobilisieren.“
Aber der Ärger entlädt sich nicht nur auf der Straße, sondern auch im Netz. Während der Corona-Pandemie haben sich auf Telegram viele – zum Teil auch regionale – Gruppen gegründet. Hier zeigt sich heute ein ähnliches Bild wie bei den Demonstrationen: Es geht längst nicht mehr nur um ein Thema. Ähnlich diffus wie auf den Demonstrationen ist auch das Themenfeld in den Telegram-Gruppen der Region. Im Chat „BayernStehtZusammen“beispielsweise wird dazu aufgerufen, die Namen einzelner Polizistinnen und Polizisten zu notieren und sie später zur Rechenschaft zu ziehen. Die Unterstellung: Sie hätten sich als „Staatsterroristen“schuldig gemacht. Im Channel „Meringer Ungeimpfte helfen Ungeimpften“will man die Mitglieder über vermeintlichen Wahlbetrug in Deutschland aufklären. Und im Chat der Gruppe „Klardenken Schwaben“wird angedeutet, der Klimawandel sei eine Lüge. Die Liste solcher Nachrichten ließ sich mühelos fortsetzen.
Piotr Kocyba, Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung, hat bereits im Sommer vor einer Radikalisierung der Proteste angesichts steigender Energiepreise gewarnt. „Wenn man den entsprechenden Akteurinnen und Akteuren auf Telegram folgt, fällt schnell auf, dass der Ton dort sehr rau ist“, sagt er. „Die Themen erscheinen zunächst bunt gemischt zu sein: Klima, Corona, Energiekrise, Russland. Aber nur auf den ersten Blick.“Viele der Themen stünden in Verbindung zueinander, sagt Kocyba.
„Wenn man sich Verschwörungsdenken ansieht, dann zeigt sich, dass es da große Überlappungen gibt“, sagt er. „Wer glaubt, Bill Gates hätte Corona erfunden, der glaubt sehr wahrscheinlich auch, dass die Nato hinter dem Krieg in der Ukraine steckt.“
Wie heiß ist er als nun wirklich, der heiße Herbst? Eine Ausweitung der Proteste erwartet Kocyba im Moment nicht. Klar sei aber auch, dass das Mobilisierungspotenzial der Proteste nicht unbedingt nachlässt, wenn der Krieg endet oder die Energiepreise sinken. „Es gibt in Deutschland mittlerweile gefestigte Milieus, in denen das Vertrauen in die liberale Demokratie und ihre Institutionen geschwunden ist. Und das ist etwas, was nicht einfach weggehen wird, auch wenn die Krise bewältigt ist.“
Extremistische Szene greift die Folgen des Krieges auf