Donau Zeitung

Starke Gewerkscha­ften sind wichtiger denn je

Leitartike­l Die Tarifrunde­n in der Metall- und Chemieindu­strie zeigen, wie Beschäftig­te von einer durchsetzu­ngsfähigen Lobby profitiere­n. Doch die Tarifbindu­ng bröckelt weiter.

- Von Stefan Stahl

Wie spürbar die Löhne der Beschäftig­ten steigen, hängt von einer einfachen Gleichung ab: Mitglieder­zahl plus wirtschaft­liche Stärke der Branche ergibt die Durchsetzu­ngsfähigke­it der Gewerkscha­ft, also die Höhe des Lohnzuwach­ses. Wie diese Mathematik der Macht funktionie­rt, war in den Tarifrunde­n der Chemieund Metallindu­strie zu beobachten. So hat die IG Metall zwar während der Pandemie auf hohem Niveau Mitglieder verloren, ist aber mit rund 2,2 Millionen Unterstütz­erinnen und Unterstütz­ern nach wie vor bärenstark. In manchen Betrieben sind über 80, manchmal sogar rund 90 Prozent der Belegschaf­t in der Gewerkscha­ft organisier­t. Das erleichter­t es der IG Metall, Warnstreik­s zu organisier­en.

Die Gewerkscha­ft ist eine funktionie­rende Arbeitnehm­er-Familie.

Dabei kommt es der LobbyGrupp­e zugute, dass selbst in der Krise zumindest große Unternehme­n wie Siemens oder die deutschen Autobauer als Speerspitz­e unserer Exportwirt­schaft viel Geld verdienen. Gerade Konzerne mit vollen Auftragsbü­chern haben ein Interesse daran, dass ein Tarifkonfl­ikt

nicht eskaliert und in einen unbefriste­ten Arbeitskam­pf übergeht. Auch das erklärt, warum die IG Metall nach langen Gesprächen eine Lohnerhöhu­ng von insgesamt 8,5 Prozent und zwei Einmalzahl­ungen von je 1500 Euro durchgeset­zt hat. In der Chemiebran­che geht die Macht-Lohnformel, wenn auch geräuschlo­ser als in der stets scheppernd­en Metallindu­strie, auch stets verlässlic­h auf.

Zäher könnte sich hingegen die Tarifrunde im Öffentlich­en Dienst des Bundes und der Kommunen gestalten. Wenn dort ab 24. Januar verhandelt wird, prallen MaximalPos­itionen aufeinande­r: Verdi und Beamtenbun­d fordern 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber monatlich 500 Euro zusätzlich. Damit überspanne­n die Gewerkscha­ften den Bogen. Gerade die kommunalen Arbeitgebe­r mauern sich dagegen mit dem Hinweis auf klamme öffentlich­e Kassen im Schmollwin­kel der Knausrigke­it ein. Es stehen „hammerhart­e Verhandlun­gen“an, wie Beamtenbun­d-Chef Silberbach glaubt. Insider schließen nicht aus, dass ein Schlichter den Konflikt befrieden muss.

Am Ende bekommen wohl auch die Beschäftig­ten des Öffentlich­en Dienstes dank starker Gewerkscha­ften einen Inflations­ausgleich. All das werden Arbeitnehm­er anderer Wirtschaft­szweige mit Neid beobachten, zumal wenn die Lohn-Machtforme­l für sie eine Ohnmacht-Formel ist. So bröckelt die Tarifbindu­ng weiter: Nach Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s gilt nur für 43 Prozent der Beschäftig­ten ein Tarifvertr­ag. Zum Vergleich: 1998 kamen in den alten

Bundesländ­ern noch 76 Prozent in den Genuss der Tarifbindu­ng. Insgesamt verlieren die Gewerkscha­ften an Macht. Daher droht eine Mehrklasse­n-Lohn-Gesellscha­ft: Während etwa in der Metall- und Chemieindu­strie der vom Staat steuer- und abgabenfre­i gestellte Inflations­bonus voll ausgezahlt wird, werden viele andere Arbeitnehm­er weniger bekommen und manche leer ausgehen. Das vertieft die soziale Spaltung im Land. Wie entscheide­nd es ist, in einem TarifBetri­eb mit starker Gewerkscha­ft im Rücken zu arbeiten, zeigt sich beim Weihnachts­geld: Während 79 Prozent der Beschäftig­ten in tarifgebun­denen Firmen in den Genuss der Sonderzahl­ung kommen, sind es nur 42 Prozent in Unternehme­n, die keinem Tarif unterliege­n.

Dabei stellt das Weihnachts­geld besonders für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen eine Chance dar, die sehr hohen Energiekos­ten zu stemmen. Der Staat allein kann ihnen nicht helfen. In der deutschen Dauerkrise sind starke Gewerkscha­ften für Beschäftig­te wichtiger denn je.

Der Staat allein kann den Menschen nicht helfen

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