Starke Gewerkschaften sind wichtiger denn je
Leitartikel Die Tarifrunden in der Metall- und Chemieindustrie zeigen, wie Beschäftigte von einer durchsetzungsfähigen Lobby profitieren. Doch die Tarifbindung bröckelt weiter.
Wie spürbar die Löhne der Beschäftigten steigen, hängt von einer einfachen Gleichung ab: Mitgliederzahl plus wirtschaftliche Stärke der Branche ergibt die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaft, also die Höhe des Lohnzuwachses. Wie diese Mathematik der Macht funktioniert, war in den Tarifrunden der Chemieund Metallindustrie zu beobachten. So hat die IG Metall zwar während der Pandemie auf hohem Niveau Mitglieder verloren, ist aber mit rund 2,2 Millionen Unterstützerinnen und Unterstützern nach wie vor bärenstark. In manchen Betrieben sind über 80, manchmal sogar rund 90 Prozent der Belegschaft in der Gewerkschaft organisiert. Das erleichtert es der IG Metall, Warnstreiks zu organisieren.
Die Gewerkschaft ist eine funktionierende Arbeitnehmer-Familie.
Dabei kommt es der LobbyGruppe zugute, dass selbst in der Krise zumindest große Unternehmen wie Siemens oder die deutschen Autobauer als Speerspitze unserer Exportwirtschaft viel Geld verdienen. Gerade Konzerne mit vollen Auftragsbüchern haben ein Interesse daran, dass ein Tarifkonflikt
nicht eskaliert und in einen unbefristeten Arbeitskampf übergeht. Auch das erklärt, warum die IG Metall nach langen Gesprächen eine Lohnerhöhung von insgesamt 8,5 Prozent und zwei Einmalzahlungen von je 1500 Euro durchgesetzt hat. In der Chemiebranche geht die Macht-Lohnformel, wenn auch geräuschloser als in der stets scheppernden Metallindustrie, auch stets verlässlich auf.
Zäher könnte sich hingegen die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen gestalten. Wenn dort ab 24. Januar verhandelt wird, prallen MaximalPositionen aufeinander: Verdi und Beamtenbund fordern 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber monatlich 500 Euro zusätzlich. Damit überspannen die Gewerkschaften den Bogen. Gerade die kommunalen Arbeitgeber mauern sich dagegen mit dem Hinweis auf klamme öffentliche Kassen im Schmollwinkel der Knausrigkeit ein. Es stehen „hammerharte Verhandlungen“an, wie Beamtenbund-Chef Silberbach glaubt. Insider schließen nicht aus, dass ein Schlichter den Konflikt befrieden muss.
Am Ende bekommen wohl auch die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes dank starker Gewerkschaften einen Inflationsausgleich. All das werden Arbeitnehmer anderer Wirtschaftszweige mit Neid beobachten, zumal wenn die Lohn-Machtformel für sie eine Ohnmacht-Formel ist. So bröckelt die Tarifbindung weiter: Nach Daten des Statistischen Bundesamtes gilt nur für 43 Prozent der Beschäftigten ein Tarifvertrag. Zum Vergleich: 1998 kamen in den alten
Bundesländern noch 76 Prozent in den Genuss der Tarifbindung. Insgesamt verlieren die Gewerkschaften an Macht. Daher droht eine Mehrklassen-Lohn-Gesellschaft: Während etwa in der Metall- und Chemieindustrie der vom Staat steuer- und abgabenfrei gestellte Inflationsbonus voll ausgezahlt wird, werden viele andere Arbeitnehmer weniger bekommen und manche leer ausgehen. Das vertieft die soziale Spaltung im Land. Wie entscheidend es ist, in einem TarifBetrieb mit starker Gewerkschaft im Rücken zu arbeiten, zeigt sich beim Weihnachtsgeld: Während 79 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Firmen in den Genuss der Sonderzahlung kommen, sind es nur 42 Prozent in Unternehmen, die keinem Tarif unterliegen.
Dabei stellt das Weihnachtsgeld besonders für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen eine Chance dar, die sehr hohen Energiekosten zu stemmen. Der Staat allein kann ihnen nicht helfen. In der deutschen Dauerkrise sind starke Gewerkschaften für Beschäftigte wichtiger denn je.
Der Staat allein kann den Menschen nicht helfen