Eugen Ruge: Metropol (97)
Kinder, ich bitte euch, mischt Hilde sich ein. Wir wollen Geburtstag feiern.
Paul sagt: Du willst doch nicht ernsthaft bezweifeln, dass das objektiv Volksfeinde sind.
Ich bezweifle gar nichts, sagt Inge. Aber wenn du morgen verhaftet wirst, bist du dann auch ein Volksfeind?
Warum sollte ich denn verhaftet werden!
Bitte, lasst uns nicht streiten heute Abend.
Hilde steht auf, schaltet das Radio ein. Es läuft eine klassische Musik, ein bisschen zu getragen, aber immerhin Musik. Auch zum Übertönen der Gespräche.
Auf Alice, sagt Erwin und kippt seinen Wodka. Gib mir noch einen.
Was ist denn mit Gerda?, fragt Hilde in der Annahme, es handle sich tatsächlich um eine Krankheit, eine Frauensache vielleicht, über die Erwin vorhin nicht reden wollte.
Erwin braucht einen Augenblick, bevor er herauspresst: Sie wollen uns rausschmeißen. Wir sollen nach Deutschland zurück.
Jetzt ist sogar Paul fassungslos: Aber wieso denn?
Es gibt keine Begründung, sagt Erwin. Mein Pass ist abgelaufen, und die Abteilung für Visa und Registratur weigert sich, die Aufenthaltsgenehmigung in den abgelaufenen Pass zu stempeln. Ich soll ihn verlängern lassen. Aber die Deutsche Botschaft verlängert ihn nur zur Rückreise nach Deutschland!
Du warst bei der Deutschen Botschaft? Paul ist entsetzt.
Was soll ich denn machen? Also dann brauchst du dich nicht zu wundern, dass dein Aufenthalt nicht verlängert wird.
Herrgott, Paul! Kapierst du nicht? Man hat mich dazu aufgefordert. Ich habe das selbstverständlich abgelehnt. Ich gehe nicht zu einer faschistischen Botschaft! Weißt du, was dann passiert ist? Ich werde es dir sagen: Wir haben Besuch bekommen, zwei Leute in Zivil, aber mit Gewehren und aufgepflanztem Bajonett, hörst du? Aufgepflanztes Bajonett. Solche Kerle. In Lederjacken.
Ob wir unsere dokumenty in Ordnung gebracht hätten. Und als ich gesagt habe, ich gehe nicht in die faschistische Botschaft, lassen die sich auf dem Sofa nieder, sitzen da, rauchen, drücken die Kippen auf dem Fußboden aus und antworten auf jede Frage immer nur, ob wir unsere dokumenty in Ordnung gebracht hätten. Und kommen am nächsten Tag wieder! Und am übernächsten! Seit drei Wochen bekommen wir jeden Tag Besuch, mal früher, mal später.
Aber warum lasst ihr die denn rein?, will Paul wissen.
Warum wir die reinlassen? Erwin starrt ihn an, fassungslos. Dann bricht sich seine ganze Aufregung Bahn in einem irren Lachen. Die Tränen laufen ihm herunter, er verbirgt das Gesicht mit den Händen. Die anderen sitzen ratlos daneben, das Radio spielt einen Trauermarsch. Hilde steht auf, macht es aus. Erwin hat sich wieder gefasst.
Warum wir die reinlassen… Du musst die nur mal anklopfen hören, Paul, dann weißt du, warum wir sie reinlassen. Die haben einen Ausweis, Abteilung für Visa und Registratur. Die brüllen auf dem Hausflur herum. Die Nachbarn kriegen das mit. Keiner spricht mehr mit uns im Haus, die Leute beschimpfen uns als Faschisten. Völlig absurd.
Ja, ich bin zur Deutschen Botschaft gegangen, Paul. Und die
Deutsche Botschaft hat mir in den Ausweis gestempelt: Gültig für vierzehn Tage zur Rückreise nach Deutschland! Und nun kannst du mir gern einen Ratschlag erteilen.
Und an Julius gewandt: Gib mir noch einen.
Alle schweigen, alle haben aufgehört zu essen. Erwin kippt seinen Wodka. Man hört es im Nebenzimmer poltern, Hilde schaut auf die Uhr: Es ist erst halb zwölf, zu früh für das NKWD.
Hilde, du kennst doch die halbe Welt. Kennst du nicht jemanden, der da helfen kann? Schreib an Stalin, sagt Hilde. Eine Stunde später sind die Gäste gegangen. Stumm räumen Hilde und Julius den Tisch ab. Es gibt nichts mehr zu sagen, es gibt nur noch etwas zu tun. Morgen wird sie ihren Brief schreiben, sie hat alles im Kopf.
Morgen wird sie ihn an der Wache abgeben. Absender: Komintern, OMS. Oder wie es neuerdings heißt: S.S.
Stalin wird den Brief lesen. Stalin
wird reagieren. Stalin wird dieses Land retten. Er muss dieses Land retten. Wer, wenn nicht er?
Ehe sie alles abgespült und verstaut hat, ist es halb zwei. Um zwei liegen sie im Bett. Hilde kann nicht einschlafen, auch Julius liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke.
Ich habe dir verschwiegen, dass Alice verhaftet worden ist, sagt er schließlich. Ich habe dir einiges verschwiegen, Hilde. Ich wollte dich schonen.
Und nach einer Weile fügt er hinzu: Ich habe den Eindruck, es geht dir nicht gut.
Ich bin wieder gesund.
Ich meine nicht, körperlich. Es geht mir gut. Wir sprechen morgen über alles. Jetzt lass uns ausruhen, wir brauchen Kraft.
Sie schmiegt sich an Julius, ihre Einschlafstellung: Bauch an Rücken, ihre Nase an Julius’ Schulter. Er riecht so gut. Wie denn? Ein bisschen nach Haferflocken mit Rosinen und Butter, wie in ihrer Kindheit.