Schätze aus Schachteln
Im Archiv des Deutschen Museums lagern die Dokumente zum geheimen Atomprogramm der Nazis. Dort liegt das Laborbuch Otto Hahns oder aber die Tonbänder mit dem Originalgekreische von Hitchcocks „Die Vögel“. Ein Besuch.
Grau in Grau lagern die Schachteln und Kisten, 4,7 Regalkilometer, Stahlschrank neben Stahlschrank, Nummer folgt auf Nummer, tausende. Archive sind zunächst einmal stumm, runtergekühlte Lagerstätten, bibliophile Recherche-Nester. Allerdings: In ihnen können ganze Geschichtsuniversen, Wissenschaftsschätze und einstmals wohl gehütete Geheimnisse nur eine Schublade, ein Behältnis entfernt sein.
Das gilt auch für das Archiv des Deutschen Museums. Wilhelm Füßl hat es 29 Jahre geleitet, er ist der kundigste Kenner dieser Schätze und der Mann kann Dokumente zum Sprechen bringen, wenn er mit seinen weißen Baumwollhandschuhen vorsichtig die Schachteln öffnet. Und erzählt.
Aus einem der Kistchen holt Füßl ein Tonband. Darauf sind Musik, Kompositionen und Geräusche von Oskar Sala. Wer den Komponisten nicht kennt und weiß, was ein Trautonium ist, der hat aber sicher schon mit Grausen das Geschrei der „Vögel“aus Alfred Hitchcocks Meisterwerk vernommen. Weil dem die echten Möwen nicht grauenhaft genug kreischten, fragte er beim Miterfinder eines der ersten elektronischen Musikinstrumente an. Sala griff in die Tasten. Der Rest ist das Mark durchdringende Filmgeschichte.
Musikpionier Sala überließ seinen Nachlass dem Museum. Für Füßl und seine Kollegen begann danach ein Recherche-Großwerk. Denn die rund 2000 Tonträger waren teilweise schlecht verpackt, nicht geordnet, die Bänder sehr oft geschnitten und wieder zusammengeklebt. Weil Sala aber wenig Noten hinterlassen hatte, waren diese Bänder quasi sein Vermächtnis. Wenn man sich dann noch vorstellt, dass längst nicht immer hinterlegt war, in welcher Geschwindigkeit die Bänder bei der Aufnahme gespielt wurden, kann man sich vorstellen, was die Digitalisierung dieses Gesamtwerks bedeutete: das Zusammensetzen eines gigantischen Puzzles.
Nächste Schachtel. In ihr befinden sich Teile der Dokumente, mit denen Historiker Füßl wohl das
meiste Aufsehen erregt hat. Es sind die Papiere zum Deutschen Atomprogramm der Nazizeit. In der Summe 11.602 Seiten. Sie kamen 1998 in Museumsbesitz, die Originale waren 1944 und 1945 von „Alsos“, einem Spezialkommando der US-Streitkräfte, beschlagnahmt worden. Die Stempel „Geheim“, „Secret“und „Restricted Data“weisen auf die Brisanz hin.
Warum, wird schnell klar. Denn in dem Bericht an das Heereswaffenamt der Nazis, den Füßl nun in den Händen hält, erwägt Carl Friedrich von Weizsäcker im Juli 1940 eine „Möglichkeit der Energiegewinnung aus Uran 238“. Der Physiker beschreibt darin, dass in Kernreaktoren doch ein neues spaltbares Element entstehen müsse. Und zwar Monate bevor in
den USA Plutonium entdeckt wurde. Jenes neue Element, so notierte von Weizsäcker weiter, könne einmal zum Bau sehr kleiner Maschinen verwendet werden. Oder für Sprengstoff.
Ziemlich nervös dürften die Amerikaner – auch das ist auf einem Verhör-Schnipsel in den Archivakten – die Aussagen des deutschen Forschers Ernst Nagelstein gemacht haben. Der gab 1944 zu Protokoll, nicht zu wissen, ob die deutsche Atombombe aus Thorium oder Uran hergestellt würde. Das war zu einem Zeitpunkt, als die US-Forscher im ManhattanProjekt noch nicht so weit waren. Zum Glück bemerkten die Amerikaner bald, dass diese Informationen nicht sehr valide waren. Der Name Nagelstein taucht in den Akten
der Alsos-Mission nicht mehr auf. Brisant war es dennoch. Denn, sagt Füßl und verschließt die nächste Schachtel sorgfältig, wenn die Amerikaner das geglaubt hätten, wäre die erste Atombombe nicht auf Japan, sondern vielleicht auf Deutschland gefallen.
Es passt dazu, dass im ArchivBestand auch ein bescheiden daherkommendes Notizbuch des Chemikers Otto Hahn ist. Lange Zahlentabellen, Messergebnisse. Hahn und Kollegen waren damit beschäftigt gewesen Uran zu bestrahlen. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1938 passierte etwas, was der Forscher nicht verstand. Im Buch ist die Stelle rot markiert. Er bat die Kollegin Lise Meitner: „Vielleicht kannst du irgendeine fantastische Erklärung vorschlagen.“Entdeckt war: die Kernspaltung. Nobelpreisträger Hahn überließ die Labor-Kladde 1960 dem Museum. Weltgeschichte in Zahlen notiert. Verpackt hatte er sie in einem orangenen Umschlag, auf den er klein, aber gut lesbar schrieb: „Sehr wichtig“.
Schachtel zu, Schachtel auf. Anderes Jahrhundert, aber nicht minder spannend. Füßl erzählt nun von einem gewissen Georg von Reichenbach. Dessen Tagebuch ist Füßls Lieblingsstück im Archiv. Reichenbach, ein Münchener Ingenieur, machte sich 1791 nach England auf, um sich dort im Auftrag der bayerischen Regierung, nun ja, umzusehen. Er verschaffte sich, so Füßl, heimlich Zugang zu englischen Fabriken und es gelang ihm – mutmaßlich mittels Bestechung in Form von Whisky -, die Dampfmaschine von James Watt abzuzeichnen. Watt hatte ihm das vorher ausdrücklich untersagt. Dass sich später, als Reichenbach zurück war, im Freistaat die Dampfmaschinen mehrten, ist sicher nur Zufall. In München sind heute jedenfalls die Reichenbachstraße und Reichenbachbrücke nach ihm benannt. Füßl meint: „Eine steile Karriere für einen Ex-Spion.“
Es gäbe noch viele Geschichten. Vom Flugpionier Otto Lilienthal, von der mutmaßlich ersten Fotografin der Weltgeschichte, vom Universalgelehrten Albertus Magnus, dessen Pergamenthandschrift „Physicorum Libri VIII“das älteste Stück im Hause ist. 1910 für damals 500 Mark vom Museum in einem Münchener Antiquariat erstanden. „Heute“, sagt Füßl, „müssten sie an den Preis noch ein paar Nullen anfügen.“Auch wenn das Museum prinzipiell nichts zahlt, sondern sich nur schenken lässt, hat er einmal ausgerechnet, dass die dort inzwischen verwahrten Dokumente in der Summe über eine Milliarde Euro wert sind.
Es sind Schätze in Schachteln. Gehoben, bewahrt. Zugleich kann kein Museum immer alles zeigen, was es im Fundus hat. Aber sagt Füßl, der nun ein Buch zum Archiv geschrieben hat: „Sie gehören in die Öffentlichkeit.“
Wilhelm Füßl, „Schatzkammer für Technik und Wissenschaft: Das Archiv des Deutschen Museums“, 2022,.