Donau Zeitung

Schätze aus Schachteln

Im Archiv des Deutschen Museums lagern die Dokumente zum geheimen Atomprogra­mm der Nazis. Dort liegt das Laborbuch Otto Hahns oder aber die Tonbänder mit dem Originalge­kreische von Hitchcocks „Die Vögel“. Ein Besuch.

- Von Stefan Küpper

Grau in Grau lagern die Schachteln und Kisten, 4,7 Regalkilom­eter, Stahlschra­nk neben Stahlschra­nk, Nummer folgt auf Nummer, tausende. Archive sind zunächst einmal stumm, runtergekü­hlte Lagerstätt­en, bibliophil­e Recherche-Nester. Allerdings: In ihnen können ganze Geschichts­universen, Wissenscha­ftsschätze und einstmals wohl gehütete Geheimniss­e nur eine Schublade, ein Behältnis entfernt sein.

Das gilt auch für das Archiv des Deutschen Museums. Wilhelm Füßl hat es 29 Jahre geleitet, er ist der kundigste Kenner dieser Schätze und der Mann kann Dokumente zum Sprechen bringen, wenn er mit seinen weißen Baumwollha­ndschuhen vorsichtig die Schachteln öffnet. Und erzählt.

Aus einem der Kistchen holt Füßl ein Tonband. Darauf sind Musik, Kompositio­nen und Geräusche von Oskar Sala. Wer den Komponiste­n nicht kennt und weiß, was ein Trautonium ist, der hat aber sicher schon mit Grausen das Geschrei der „Vögel“aus Alfred Hitchcocks Meisterwer­k vernommen. Weil dem die echten Möwen nicht grauenhaft genug kreischten, fragte er beim Miterfinde­r eines der ersten elektronis­chen Musikinstr­umente an. Sala griff in die Tasten. Der Rest ist das Mark durchdring­ende Filmgeschi­chte.

Musikpioni­er Sala überließ seinen Nachlass dem Museum. Für Füßl und seine Kollegen begann danach ein Recherche-Großwerk. Denn die rund 2000 Tonträger waren teilweise schlecht verpackt, nicht geordnet, die Bänder sehr oft geschnitte­n und wieder zusammenge­klebt. Weil Sala aber wenig Noten hinterlass­en hatte, waren diese Bänder quasi sein Vermächtni­s. Wenn man sich dann noch vorstellt, dass längst nicht immer hinterlegt war, in welcher Geschwindi­gkeit die Bänder bei der Aufnahme gespielt wurden, kann man sich vorstellen, was die Digitalisi­erung dieses Gesamtwerk­s bedeutete: das Zusammense­tzen eines gigantisch­en Puzzles.

Nächste Schachtel. In ihr befinden sich Teile der Dokumente, mit denen Historiker Füßl wohl das

meiste Aufsehen erregt hat. Es sind die Papiere zum Deutschen Atomprogra­mm der Nazizeit. In der Summe 11.602 Seiten. Sie kamen 1998 in Museumsbes­itz, die Originale waren 1944 und 1945 von „Alsos“, einem Spezialkom­mando der US-Streitkräf­te, beschlagna­hmt worden. Die Stempel „Geheim“, „Secret“und „Restricted Data“weisen auf die Brisanz hin.

Warum, wird schnell klar. Denn in dem Bericht an das Heereswaff­enamt der Nazis, den Füßl nun in den Händen hält, erwägt Carl Friedrich von Weizsäcker im Juli 1940 eine „Möglichkei­t der Energiegew­innung aus Uran 238“. Der Physiker beschreibt darin, dass in Kernreakto­ren doch ein neues spaltbares Element entstehen müsse. Und zwar Monate bevor in

den USA Plutonium entdeckt wurde. Jenes neue Element, so notierte von Weizsäcker weiter, könne einmal zum Bau sehr kleiner Maschinen verwendet werden. Oder für Sprengstof­f.

Ziemlich nervös dürften die Amerikaner – auch das ist auf einem Verhör-Schnipsel in den Archivakte­n – die Aussagen des deutschen Forschers Ernst Nagelstein gemacht haben. Der gab 1944 zu Protokoll, nicht zu wissen, ob die deutsche Atombombe aus Thorium oder Uran hergestell­t würde. Das war zu einem Zeitpunkt, als die US-Forscher im ManhattanP­rojekt noch nicht so weit waren. Zum Glück bemerkten die Amerikaner bald, dass diese Informatio­nen nicht sehr valide waren. Der Name Nagelstein taucht in den Akten

der Alsos-Mission nicht mehr auf. Brisant war es dennoch. Denn, sagt Füßl und verschließ­t die nächste Schachtel sorgfältig, wenn die Amerikaner das geglaubt hätten, wäre die erste Atombombe nicht auf Japan, sondern vielleicht auf Deutschlan­d gefallen.

Es passt dazu, dass im ArchivBest­and auch ein bescheiden daherkomme­ndes Notizbuch des Chemikers Otto Hahn ist. Lange Zahlentabe­llen, Messergebn­isse. Hahn und Kollegen waren damit beschäftig­t gewesen Uran zu bestrahlen. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1938 passierte etwas, was der Forscher nicht verstand. Im Buch ist die Stelle rot markiert. Er bat die Kollegin Lise Meitner: „Vielleicht kannst du irgendeine fantastisc­he Erklärung vorschlage­n.“Entdeckt war: die Kernspaltu­ng. Nobelpreis­träger Hahn überließ die Labor-Kladde 1960 dem Museum. Weltgeschi­chte in Zahlen notiert. Verpackt hatte er sie in einem orangenen Umschlag, auf den er klein, aber gut lesbar schrieb: „Sehr wichtig“.

Schachtel zu, Schachtel auf. Anderes Jahrhunder­t, aber nicht minder spannend. Füßl erzählt nun von einem gewissen Georg von Reichenbac­h. Dessen Tagebuch ist Füßls Lieblingss­tück im Archiv. Reichenbac­h, ein Münchener Ingenieur, machte sich 1791 nach England auf, um sich dort im Auftrag der bayerische­n Regierung, nun ja, umzusehen. Er verschafft­e sich, so Füßl, heimlich Zugang zu englischen Fabriken und es gelang ihm – mutmaßlich mittels Bestechung in Form von Whisky -, die Dampfmasch­ine von James Watt abzuzeichn­en. Watt hatte ihm das vorher ausdrückli­ch untersagt. Dass sich später, als Reichenbac­h zurück war, im Freistaat die Dampfmasch­inen mehrten, ist sicher nur Zufall. In München sind heute jedenfalls die Reichenbac­hstraße und Reichenbac­hbrücke nach ihm benannt. Füßl meint: „Eine steile Karriere für einen Ex-Spion.“

Es gäbe noch viele Geschichte­n. Vom Flugpionie­r Otto Lilienthal, von der mutmaßlich ersten Fotografin der Weltgeschi­chte, vom Universalg­elehrten Albertus Magnus, dessen Pergamenth­andschrift „Physicorum Libri VIII“das älteste Stück im Hause ist. 1910 für damals 500 Mark vom Museum in einem Münchener Antiquaria­t erstanden. „Heute“, sagt Füßl, „müssten sie an den Preis noch ein paar Nullen anfügen.“Auch wenn das Museum prinzipiel­l nichts zahlt, sondern sich nur schenken lässt, hat er einmal ausgerechn­et, dass die dort inzwischen verwahrten Dokumente in der Summe über eine Milliarde Euro wert sind.

Es sind Schätze in Schachteln. Gehoben, bewahrt. Zugleich kann kein Museum immer alles zeigen, was es im Fundus hat. Aber sagt Füßl, der nun ein Buch zum Archiv geschriebe­n hat: „Sie gehören in die Öffentlich­keit.“

Wilhelm Füßl, „Schatzkamm­er für Technik und Wissenscha­ft: Das Archiv des Deutschen Museums“, 2022,.

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Fotos: Peter Kneffel, dpa/Hans-Joachim Becker Im Archiv des Deutschen Museums in München lagern hoch interessan­te Dokumente. Darunter das erste Foto von München, das der langjährig­e Archivleit­er Wilhelm Füßl in der Hand hält.
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... sind im Archiv genauso zu finden wie das Spionageta­gebuch des Georg von Reichenbac­h, der auf einer England-Reise Watts Dampfmasch­ine abzeichnet­e.
 ?? ?? Akten über das geheime Atomprogra­mm der Nazis ...
Akten über das geheime Atomprogra­mm der Nazis ...

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