Die Gefahr aus dem Fels
3000 Tonnen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg bedrohen das Schweizer Dorf Mitholz. Sprengkörper sind unter Geröll verschüttet. Für die milliardenschwere Räumung müssen Einwohner nun ihre Heimat verlassen.
Die Menschen in dem Schweizer Dorf Mitholz leben neben einer Zeitbombe: Nur 100 Meter von einigen Häusern entfernt und etwas höher gelegen als das Dorf ist ein verschüttetes Munitionslager der Schweizer Armee aus dem Zweiten Weltkrieg. Rund 3000 Tonnen Bomben, Minen und Granaten befinden sich dort in einem felsigen Gebiet, das die knapp 200 Dorfbewohner „unter der Fluh“nennen. In dem unterirdischen Militärdepot hatten bereits vor 75 Jahren heftige Explosionen die Sprengkörper unter Gestein, Geröll und Schutt begraben – und sie kaum erreichbar gemacht. Kommt es wieder zur Explosion?
Die Regierung in Bern will nun die Räumung in Angriff nehmen und hat Gelder für das auf mehrere Jahre anberaumte Projekt beim Parlament beantragt: Das Kabinett veranschlagt umgerechnet etwas mehr als 2,6 Milliarden Euro dafür – für Schutzbauten, Munitionsbergung, Entsorgung, Instandsetzung und Entschädigungszahlungen. „Mit der Räumung will der Bundesrat die Grundlage für eine sichere und attraktive Zukunft für Mitholz schaffen“, versicherten die sieben Minister kürzlich. Gleichzeitig versprachen sie eine „enge Abstimmung“mit Menschen und Behörden in Mitholz. Roman Lanz, der Bürgermeister von Kandergrund,
zu dem das Dorf gehört, lobt die Entschlossenheit der Regierung. Diese meine es ernst mit der Hilfe, findet er.
Allerdings hatten Politiker und Militärs die Dorfbewohnerinnen und -bewohner lange im Unklaren über die hochexplosiven Rückstände gelassen. Es gehe keine wirkliche Gefahr von diesen aus. Neue Detonationen? Wenn überhaupt, dann nur ein paar harmlose Erschütterungen, hieß es. Die Armee unterhielt auf dem Areal sogar eine Apotheke und eine Truppenunterkunft. Geplant war zudem, ein Rechenzentrum zu errichten.
Erst 2018 rang sich die Regierung dazu durch, den „lieben Bewohnern“von Mitholz reinen Wein einzuschenken. Der damalige Verteidigungsminister
Guy Parmelin reiste an und sagte, dass „ein höheres Risiko für eine Explosion als bisher angenommen“bestehe. Die Schweizer Regierung nehme die Lage ernst. Er ließ die Armee-Apotheke und die Truppenunterkunft schließen, das Rechenzentrum wurde nicht gebaut. Sofortmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung seien aber nicht angedacht, stellte Parmelin klar. „Es ist nicht nötig, das Dorf zu evakuieren oder die Straße und die Bahnlinie zu sperren“, erklärte er.
Im Februar 2020 waren aus dem Verteidigungsministerium dann andere Töne zu hören: „Nach heutigem Kenntnisstand müssen die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz während der Räumung
je nach Verlauf über mehr als zehn Jahre wegziehen.“Seitdem haben Menschen aus neun Liegenschaften dem gefährdeten Dorf den Rücken gekehrt, freiwillig. Weitere 51 Menschen werden es 2025 und 2030 verlassen müssen. Danach sollen die Räumungsarbeiten starten. Frühestens.
Droht aus Mitholz also ein Geisterdorf zu werden? „Nein, das wird nicht passieren, wir Bergler wissen mit Gefahren umzugehen“, sagt Bürgermeister Lanz. Die Gemeinde habe für die Ausgesiedelten fünf neue Bauzonen außerhalb der Gefahrenzone eröffnet. „Einige Menschen hier empfinden die ganze Geschichte aber auch als unfassbar“, ergänzt er.
Wie konkret die Bedrohung ist, wissen Kampfmittelexperten. Nach Untersuchungen im Jahr 2018 ging der Chemiker Patrick Folly davon aus, dass „die sichtbare Munition weniger als ein Prozent der gesamten zu räumenden Menge ausmacht“. Gutachter warnen: Schon ein Felssturz, ein Blitzeinschlag oder eine Bildung von Kupferazid in Zündern könnte eine Detonation verursachen. Im schlimmsten Fall würden durch eine Kettenreaktion viele Sprengungen ausgelöst. In dem Fall drohten Erdstöße, Bergrutsche, „Trümmerwürfe“von Gestein, Feuerbälle und Umweltschäden.
Der Ort musste so etwas schon einmal erleben. „In den 1940er Jahren schlug die Armee in Mitholz eine riesige Munitionslagerstätte in das Gestein“, erzählt Bürgermeister Lanz. In sechs Kammern lagerten die Eidgenossen fein säuberlich 7000 Tonnen Militärgeschosse. In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 ereignete sich schließlich die Katastrophe. Explosionen erschütterten das Stollensystem, in den vorderen Teil prasselten 255.000 Kubikmeter Fels. Die Druckwellen, umherfliegende Brocken und Feuer zerstörten Häuser und den Bahnhof. Neun Menschen starben, viele erlitten Verletzungen, Vieh verendete. Die Neue Zürcher Zeitung hielt damals fest: „Das Ganze macht den Eindruck einer Ortschaft, über die der Krieg mit Bomben und Artillerie hinweggerast ist.“