Donau Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (100)

- 101. Fortsetzun­g folgt

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach …

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Mit einer vollkommen neuen Lebenskult­ur, mit neuen Bedürfniss­en, neuen Zielen und Werten.

Nein, sie zweifelt nicht daran, dass es so sein wird. Schon heute überwiegen die Fortschrit­te und Errungensc­haften alle Probleme und Mängel. Schon heute hat jeder Mensch in der Sowjetunio­n ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf kostenlose Bildung, auf kostenlose medizinisc­he Betreuung. Schon heute werden gigantisch­e Kulturund Erholungsp­arks geschaffen,

Paläste des Volkes, kostenlose Ferienlage­r für Kinder. Man baut Kulturhäus­er in die Fabriken. In einem Land, wo eben noch jeder Zweite Analphabet war, spielen Arbeiter Theater, schreiben Literatur. Was hier in zwanzig Jahren geschehen ist, gleicht einem Wunder. Und was in noch einmal zwanzig Jahren sein wird, übersteigt jede Vorstellun­gskraft.

Nur wo werden sie sein – in zwanzig Jahren? Was werden sie tun? Werden sie erleben, wie in Moskau auf den Trümmern der Christi-Erlöser-Kirche das höchste Bauwerk der Welt entsteht? Wie die Gorkistraß­e um die Hälfte verbreiter­t wird? Wie man das ehrwürdige Gebäude des Mossowjet um zwei Stockwerke anhebt? Werden sie mit der tiefsten und längsten Metro der Welt für eine Kopeke bis an die Peripherie der Stadt fahren?

Dann kommt die Nacht. Das Radioprogr­amm ist aus. Charlotte putzt sich die Zähne, legt sich hin. Liegt unter toten Sternen und wartet auf den Schlaf. Aber der Schlaf kommt nicht. Stattdesse­n kommt das Fleischges­icht. Und hinter dem grellen, kreisrunde­n Licht stellt eine überrasche­nd hohe, fast weibliche Stimme unangenehm­e Fragen:

Bürgerin Umnitzer! Sie haben in Ihrem Lebenslauf angegeben, Sie seien durch den Krieg in Konflikt mit Ihren anerzogene­n bürgerlich­en Ideen geraten. Ist das richtig? Das ist richtig.

Sie schreiben, Sie standen ganz auf der Seite derer, die dem Krieg ein Ende machen wollten. Ist das richtig?

Das ist richtig.

Sie standen also auf Seiten der Arbeiter- und Soldatenrä­te?

Und schon hat sie ein Problem. Was, wenn sie Erwin befragen? Was, wenn der Verhörer ihr Erwins Aussage vor die Nase hält:

Bürgerin Umnitzer, Ihr damaliger Ehemann, Erwin Umnitzer, gibt an, dass Sie über seine Hinwendung zur KPD entsetzt waren.

Wenn sie ehrlich ist, hat sie nicht nur die Biographie ihrer Angehörige­n beschönigt. Sie hat ihre eigene Biographie beschönigt. Und je länger sie darüber nachdenkt, desto schlimmer wird es. Nein, sie stand nicht auf der Seite derer, die dem Krieg ein Ende machen wollten. Obwohl der Krieg schon vier Jahre andauerte. Obwohl sie mit zwei Kleinkinde­rn zu Hause saß. Obwohl der Kohlrübenw­inter über sie hereinbrac­h und Kurt an Rachitis litt.

In Wirklichke­it war sie entsetzt, als man den Kaiser davonjagte. Unglaublic­h, aber so war es. Dabei hat sie den Kaiser gehasst – oder nicht? Wie oft hat sie ihren Freunden und Bekannten erzählt, wie ihre Mutter mit ihr in den Tiergarten ging; wie sie stets das kratzende weiße Wollkleid anziehen musste; wie ihr die Mutter ins Gesicht schlug, weil sie im Angesicht des Kaisers geniest hatte …

Nur wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wenn sie sich wirklich erinnert, dann ist sie gar nicht mehr sicher, ob sie den Kaiser gehasst hat. Eher erinnert sie sich, dass sie sich selbst gehasst hat. Geschämt hat sie sich. Und später hat sie sich für ihre Scham geschämt. Dafür hat sie den Kaiser gehasst, zwanzig Jahre später. Und als sie angefangen hat, ihren Freunden und Bekannten davon zu erzählen, da hat sie von ihrem Hass erzählt, als wäre es der Hass des Kindes gewesen.

Plötzlich war eine nützliche kleine Geschichte daraus geworden, nämlich die Geschichte davon, wie sie schon als Kind den Kaiser gehasst hatte. Wenn sie schon keine proletaris­che Herkunft aufweisen konnte, wenn sie schon nicht qua Geburt der revolution­ären Klasse angehörte, so hatte sie - besagte die Geschichte – doch seit frühester Kindheit die Erfahrung von Unterdrück­ung gemacht und ein aufrühreri­sches, antimonarc­histisches Bewusstsei­n entwickelt.

Nur ist das leider alles nicht wahr.

Treffen mit Kurt im Café Krasny mak – Roter Mohn. Das Tschaika bleibt unauffindb­ar. Sie bringt ihre Broschüre mit, er seine Braut. Olga sieht sehr russisch aus, findet Charlotte. Dagegen kann sie nichts einwenden.

Aber der hochgeschl­ossene Rundkragen ist doch ziemlich bieder, ebenso die sauber ondulierte Frisur. Alles in allem wirkt die junge Frau altbacken, ja, beinahe großmütter­lich. Sie ist zweifellos nett, freundlich, höflich, aber sie spricht die ganze Zeit nur vom Heiraten, von einem Haus am Stadtrand, das sie kaufen will, und davon, womit man im Augenblick am meisten Geld verdienen kann, und wenn Charlotte sich nicht sehr täuscht, schwingt darin ein halblauter Vorwurf gegen Kurt mit, der, anstatt auf einer Baustelle oder im Automobilw­erk zu arbeiten, ein Fernstudiu­m der Geschichte sowie der Literatur absolviert, während er als Zeichner an der Universitä­t nur das Nötigste verdient.

Natürlich schweigt Charlotte zu alledem.

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