Wie groß ist das Blackout-Risiko bei uns?
Mehrfach ist in Deutschland zuletzt vor Stromausfällen im Winter gewarnt worden. Wenn jemand weiß, wie hoch das Risiko tatsächlich ist, dann sind es die Experten der Netzbetreiber. Ein Besuch in der Leitstelle der Lechwerke.
Eine Leitstelle zu besuchen, hat immer etwas Raumschiffartiges. Große Bildschirme bedecken die Wände. In Rot, Grün, Blau, Lila ist darauf ein Abbild des Leitungsnetzes in unserer Region zu sehen. Das Verteilnetz bringt Strom in die Städte und Ortschaften, Energie für Haushalte, Computer, Maschinen. Es sind die Lebensadern unserer Zeit. Das Licht ist gedämpft, die Atomsphäre im Raum konzentriert. „Wir sind 24 Stunden besetzt, an sieben Tagen in der Woche“, sagt Martin Ehinger, Leiter der zentralen Netzführung, immer ein Auge auf den Bildschirmen. Wenn man wissen will, wie groß das Risiko eines Stromausfalls diesen Winter ist, dann ist man hier richtig.
Das Unternehmen LEW Verteilnetz (LVN) – eine Tochter der Lechwerke – ist zuständig für 36.000 Kilometer Stromnetz in unserer Region. Rund eine Million Menschen werden über die Leitungen versorgt. Ist das Netz stabil genug, sodass auch in diesem Ausnahme-Winter keine Stromausfälle drohen? Über mögliche Blackouts in Deutschland ist zuletzt oft spekuliert worden.
Das Grundproblem, erklärt es Josef Wagner, ist, dass Strom noch nicht in größeren Dimensionen speicherbar ist. „Es muss immer genauso viel erzeugt werden, wie verbraucht wird, um das System stabil zu halten.“Wagner ist Technischer Geschäftsführer der LEW Verteilnetz. Gerade in diesem Winter könnte es schwieriger werden, das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch zu halten. Zum einen ist nur ein Teil der französischen Kernkraftwerke einsatzbereit. Statt rund 60 Gigawatt Leistung stehen aktuell nur etwas mehr als die Hälfte an Gigawatt zur Verfügung. Zum anderen ist durch den Krieg in der Ukraine die Gasversorgung teuer und kompliziert geworden. „Gaskraftwerke aber sind notwendig zur Stabilisierung des Stromsystems“, sagt Wagner. Sie können Nachfragespitzen abdecken und einspringen, falls Wind und Sonne schwächeln. Dazu kommt auch noch, dass sich die Bundesbürger in den letzten Monaten massenhaft mit Heizlüftern eingedeckt haben. Entscheidend wird auch sein, dass die Stromautobahnen aus dem windreichen Norden in die Verbrauchszentren im Süden genügend Transportkapazität zur Verfügung stellen können. Wie ist angesichts all dessen also die Lage im Winter?
Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber Tennet, Amprion, 50 Hertz und TransnetBW haben die Stabilität der Stromversorgung in Stresstests untersucht. Das Ergebnis klingt zunächst nicht beruhigend. Es besagt, dass in allen Szenarien „die Versorgungssituation im kommenden Winter äußerst angespannt sein wird“und dass „die benötigte Last am europäischen Strommarkt nicht immer vollständig gedeckt werden kann“. Die gute Seite ist, dass die Bundesregierung inzwischen gehandelt hat. Die Laufzeiten der letzten drei deutschen Atomkraftwerke wurden verlängert, abgeschaltete Kohlekraftwerke werden als Reserve reaktiviert.
Bei LEW Verteilnetz ist Josef Wagner deshalb entspannter, gibt aber auch keine vollständige Entwarnung. „Wir rechnen nicht mit einem großflächigen, unkontrollierten Stromausfall“, sagt er. Das Risiko eines Blackouts schätzen die Fachleute als sehr gering ein. „Im Worstcase könnte es zu einer kontrollierten Lastabschaltung kommen“, fügt er aber an.
Ein entscheidender Satz. Er bedeutet, dass bei Engpässen Teile der Region tatsächlich keinen Strom bekommen könnten. Fachleute sprechen bei einer „kontrolHertz,
lierten Lastabschaltung“nicht von einem Blackout, sondern von einem Brownout. Was würde bei einem solchen Engpass genau passieren?
Ein stabiles Netz erkennen Fachleute daran, dass die Frequenz im Netz 50 Hertz beträgt. Sinkt die Frequenz im Netz unter die Marke von 50 Hertz, ist dies ein Signal für die großen Übertragungsnetzbetreiber, schnell aktiv zu werden. Dazu gibt es den Regelenergiemarkt,
auf dem kurzfristige Schwankungen ausgeglichen werden. Zudem können sie versuchen, zusätzliche Strommengen auf dem europäischen Strommarkt zu beschaffen oder weitere Stromerzeuger ans Netz zu bringen. Dafür stehen zum Beispiel Reservekraftwerke zur Verfügung.
Reicht dies nicht und fällt die Frequenz weiter, tritt die nächste Stufe in Kraft. Dann werden vorübergehend Verbraucher vom Netz genommen. Dies wäre der Brownout. Erst wenn die Frequenz weiter fallen würde, unter 47,5 würden auch die Kraftwerke automatisch vom Netz getrennt. Dann herrscht Blackout.
Engpasssituationen sind selten. „Zu automatischen Abschaltungen kam es zum Beispiel im Jahr 2006, als in Norddeutschland eine 380-Kilovolt-Leitung über die Ems zeitweise unterbrochen wurde, um die Durchfahrt eines Kreuzfahrtschiffes zu ermöglichen“, erinnert Wagner. Mehr als zehn Millionen Menschen in Europa waren zeitweise ohne Strom.
In der Praxis würde ein eingespielter Mechanismus in Gang kommen, wenn sich abzeichnet, dass an einem Tag nicht hinreichend Strom produziert werden kann. Die Übertragungsnetzbetreiber erstellen jeden Tag eine Prognose, ob die Stromversorgung am nächsten Tag gewährleistet ist. Zeichnen sich Engpässe ab, würden sie die regionalen Netzbetreiber wie LEW Verteilnetz vorwarnen, dass am kommenden Tag Lastabschaltungen nötig werden könnten. Zum Beispiel 100 Megawatt zwischen 9 und 12 Uhr. „Wir würden versuchen, dann über Radio und Zeitung zu informieren, dass es in der Region am kommenden Tag zu kurzzeitigen Netzunterbrechungen kommen kann“, erklärt Wagner. „Industrie und Privatkunden
könnten sich damit darauf vorbereiten.“
Tritt am nächsten Tag der befürchtete Mangel ein, käme ein automatischer Ablauf in Gang: In der LEW-Leitstelle läutet das Telefon. Der Übertragungsnetzbetreiber ruft die angekündigte Einsparung ab. Das Team hätte dann 12 Minuten Zeit, Teile des Netzes abzuschalten. Gleichzeitig würde es nach spätestens 6 Minuten andere, nachgelagerte Netzbetreiber – zum Beispiel Stadtwerke – informieren, die ebenfalls einen Beitrag leisten müssten. Diese hätten dann ihrerseits 12 Minuten Zeit, Verbraucher vom Netz zu nehmen. In Summe wäre nach 18 Minuten die angeordnete Last abgeschaltet.
Um das Netz zu entlasten, würden die Leitstellen für maximal zwei Stunden einzelne Abschnitte, also zum Beispiel Stadtteile, Ortschaften oder Ortsteile vom Netz nehmen. In zusammenhängenden Gebieten hätten die Kunden dann vorübergehend keinen Strom mehr. „Anders als bei Gas gibt es bei der Stromversorgung keine geschützten Kunden“, erklärt Wagner. Haushalte, Gewerbe und Industrie wären gleichermaßen betroffen. Betriebe der kritischen Infrastruktur wie Krankenhäuser haben in der Regel mit einer eigenen Notstromversorgung für solche Fälle vorgesorgt. „Nach spätestens zwei Stunden wird der Strom dann wieder angeschaltet“, erklärt Wagner. „Hält die Mangellage noch an, werden nun andere Gebiete abermals für je maximal zwei Stunden vom Netz genommen.“
Dass eine kontrollierte Netzabschaltung in diesem Winter der schlimmste Fall wäre, nimmt man auch am Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe an. „Ein großflächiger Stromausfall in Deutschland ist äußerst unwahrscheinlich“, teilte das Amt neulich mit. „Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit als gering angesehen, dass es regional und zeitlich begrenzt zu erzwungenen Abschaltungen kommt.“
Am stärksten dürfte das Netz aller Erfahrung der LEW nach Anfang Dezember beansprucht werden. Die Industrie produziert noch, die Weihnachtsbeleuchtung wird angeknipst, die Tage sind trübe. Auch Anfang Februar sei häufig ein angespannter Zeitpunkt.
In der Leitstelle der Lechwerke ist man also vorbereitet. Gleichzeitig kann jeder ein Stück zur sicheren Stromversorgung beitragen. Durch Energiesparen. „Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde ist derzeit eine gute Kilowattstunde“, sagt Wagner.
Im schlimmsten Fall kein Strom für zwei Stunden