Donau Zeitung

Traumatisi­ert im Klassenzim­mer

Seit September gibt es in Bayern sogenannte Brückenkla­ssen für Kinder und Jugendlich­e aus der Ukraine. Nach den ersten Monaten werden Probleme deutlich. Was könnte helfen?

- Von Stephanie Sartor

Michael Schwägerl redet nicht groß drum rum: „Wir sind keine Dolmetsche­r und auch keine Traumaexpe­rten. Wir brauchen Unterstütz­ung.“Der Vorsitzend­e des Bayerische­n Philologen­verbands – Sprachrohr der Gymnasien und Berufliche­n Oberschule­n im Freistaat – spricht damit ein Problem an, das die vielen Lehrerinne­n und Lehrer betrifft, die in den Anfang des Schuljahre­s neu eingericht­eten Brückenkla­ssen arbeiten. Das Integratio­nsmodell – mittlerwei­le gibt es im Freistaat rund 800 solcher Klassen – soll den Geflüchtet­en dabei helfen, Deutsch zu lernen und sich in den Schulallta­g einzufinde­n. Doch nach den ersten Monaten zeigt sich, dass es dabei oft Probleme gibt. Oder um im Bild zu bleiben: Die Brücken, die eigentlich geschlagen werden sollen, sind oft wackelig.

In einer Umfrage, an der sich mehr als 3000 Lehrerinne­n und Lehrer beteiligte­n, wollte der Verband herausfind­en, wie gut das Konzept funktionie­rt. Das Ergebnis: Bei der Integratio­n gibt es offenbar Schwierigk­eiten. Mehr als die Hälfte der Lehrenden (54 Prozent) bewertet die Integratio­n der ukrainisch­en Kinder und Jugendlich­en in die Schule als eher schlecht, 22 Prozent gar als eindeutig schlecht. Hinzu kommt, dass der Unterricht in den Brückenkla­ssen den Lehrkräfte­n einiges abverlangt. 38 Prozent geben an, dass der Zeitaufwan­d für die Vor- und Nachbereit­ung des Unterricht­s definitiv höher sei als bei einer Regelklass­e. Und: Mehr als jede dritte Lehrkraft bezeichnet den Unterricht in einer Brückenkla­sse als „sehr belastend“.

Für Schwägerl ist klar, dass sich etwas ändern muss: „Wir brauchen zusätzlich­es Personal zum Organisier­en, Verwalten, Auffangen, Betreuen, Begleiten.“Das Ziel sei es, dass die Kinder bald am Regelunter­richt teilnehmen könnten. Doch dass das im nächsten Schuljahr im großen Stil passieren werde, glaubt Schwägerl nicht. Er rechne vielmehr damit, dass nur eine niedrige einstellig­e Prozentzah­l im Herbst ins bayerische Regelschul­system wechseln werde. Ob mangelnde Sprachkenn­tnisse oder psychische Faktoren dafür die Ursache seien, könne man noch nicht genau sagen – generell aber glaubt Schwägerl, dass Sprachprob­leme in vielen Fällen ein großes Hindernis darstellte­n. „Wir gehen davon aus und halten es auch für sinnvoll, die Brückenkla­ssen im nächsten Jahr fortzusetz­en“, sagt der Verbandsvo­rsitzende in einer Pressekonf­erenz.

Eine, die direkt aus der Praxis berichten kann, ist Dorothee Missy, die am Gymnasium in Mering (Landkreis Aichach-Friedberg) Lehrerin einer Brückenkla­sse ist. Die Kinder und Jugendlich­en, die sie unterricht­e, seien in einer absoluten Ausnahmesi­tuation – und das merke man auch ganz deutlich an deren Verhalten. Missy spricht etwa von Aggression­en, mangelnder Motivation, Konzentrat­ionsproble­men und Regelbrüch­en. „Das sind eben die TraumaFolg­en“, sagt sie. Und diese Traumata, unter denen viele der Schülerinn­en und Schüler leiden, wirken sich auf ihre Leistungen aus. „Viele Kinder könnten vielleicht mehr, wenn es ihnen nicht so schlecht ginge. Viele sind so depressiv, dass sie sich kaum aufraffen können“, sagt Missy und fügt dann noch hinzu: „Aber es gibt durchaus auch Erfolgserl­ebnisse.“

Damit es mehr solcher Erfolge gibt, fordert auch Missy mehr therapeuti­sche oder sozialpäda­gogische Unterstütz­ung für die jungen Geflüchtet­en, und zwar möglichst in ihrer Mutterspra­che. „Dieser hohe Bedarf ist von uns Lehrkräfte­n nicht abzudecken.“Außerdem würden Dolmetsche­r für Elternaben­de gebraucht.

Und noch etwas ist der Lehrerin wichtig: Die Brückenkla­ssen dürften nicht zu groß sein. „Ich bin mit meinen 15 Schülerinn­en und Schülern schon an der Grenze. Klassen, die größer sind, sind nicht händelbar und auch nicht zielführen­d.“Die Realität sieht mitunter anders aus. In der Umfrage des Philologen­verbands geben 27 Prozent an, zwischen 16 und 20 Schülerinn­en und Schüler zu unterricht­en. Bei zehn Prozent sitzen sogar mehr als 20 Kinder in der Klasse.

Die Brückenkla­ssen gibt es an Mittelschu­len, Realschule­n, Wirtschaft­sschulen und Gymnasien – unterschie­dliche Leistungsn­iveaus gibt es aber nicht. Eine Brückenkla­sse am Gymnasium ist also nicht anspruchsv­oller als ihr Pendant an der Mittelschu­le. Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV) findet es wichtig, dass die Integratio­n der Kinder und Jugendlich­en auf viele Schularten verteilt ist. „Das ist schließlic­h eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe“, sagt sie. Vor der Einrichtun­g der Brückenkla­ssen

sei das oft nicht so gewesen. Meist hätte die Integratio­nsarbeit vor allem an Förderzent­ren, Grund- und Mittelschu­len stattgefun­den.

Die Schulen hätten derzeit alle die gleichen Probleme, vor allem „fehlt es hinten und vorne an profession­ellem Personal“, sagt Fleischman­n. Diese Kinder bräuchten nicht nur Pädagogen und Lehrerinne­n, sondern auch Traumather­apeuten, Schulsozia­larbeiteri­nnen und Schulpsych­ologen. Besonders vor dem Hintergrun­d, dass über den Winter noch mehr Flüchtling­e kommen könnten, sei es wichtig zu handeln. Der derzeitige Lehrermang­el verschärfe das Problem zudem. „Es unterricht­en Lehrerinne­n und Lehrer in einer Brückenkla­sse, die dafür nicht ausgebilde­t sind und nicht Deutsch als Fremdsprac­he studiert haben.“

Im bayerische­n Kultusmini­sterium verweist man darauf, dass bereits viel passiert sei – auch schon vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Seit dem Schuljahr 2018/2019 bis zum Schuljahr 2022/2023 seien 300 Stellen für Schulpsych­ologinnen und Schulpsych­ologen sowie 200 Stellen für Schulsozia­lpädagogin­nen und Schulsozia­lpädagogen geschaffen worden, sagt eine Ministeriu­mssprecher­in auf Nachfrage. Bayern nehme in der schulpsych­ologischen Versorgung im Länderverg­leich einen Spitzenpla­tz ein, heißt es aus dem Ministeriu­m. Um die bayerische­n Lehrkräfte im Umgang mit traumatisi­erten Schülerinn­en und Schülern zu unterstütz­en, werde außerdem das bestehende Angebot der Lehrerfort­bildung zum Thema „Traumata von Schülerinn­en und Schülern mit Migrations- und Fluchterfa­hrung“ausgebaut.

„Es fehlt hinten und vorne an profession­ellem Personal“

Simone Fleischman­n, BLLV

 ?? Foto: Peter Kneffel, dpa (Symbolbild) ?? An bayerische­n Schulen werden viele Kinder und Jugendlich­e aus der Ukraine unterricht­et.
Foto: Peter Kneffel, dpa (Symbolbild) An bayerische­n Schulen werden viele Kinder und Jugendlich­e aus der Ukraine unterricht­et.

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