Traumatisiert im Klassenzimmer
Seit September gibt es in Bayern sogenannte Brückenklassen für Kinder und Jugendliche aus der Ukraine. Nach den ersten Monaten werden Probleme deutlich. Was könnte helfen?
Michael Schwägerl redet nicht groß drum rum: „Wir sind keine Dolmetscher und auch keine Traumaexperten. Wir brauchen Unterstützung.“Der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbands – Sprachrohr der Gymnasien und Beruflichen Oberschulen im Freistaat – spricht damit ein Problem an, das die vielen Lehrerinnen und Lehrer betrifft, die in den Anfang des Schuljahres neu eingerichteten Brückenklassen arbeiten. Das Integrationsmodell – mittlerweile gibt es im Freistaat rund 800 solcher Klassen – soll den Geflüchteten dabei helfen, Deutsch zu lernen und sich in den Schulalltag einzufinden. Doch nach den ersten Monaten zeigt sich, dass es dabei oft Probleme gibt. Oder um im Bild zu bleiben: Die Brücken, die eigentlich geschlagen werden sollen, sind oft wackelig.
In einer Umfrage, an der sich mehr als 3000 Lehrerinnen und Lehrer beteiligten, wollte der Verband herausfinden, wie gut das Konzept funktioniert. Das Ergebnis: Bei der Integration gibt es offenbar Schwierigkeiten. Mehr als die Hälfte der Lehrenden (54 Prozent) bewertet die Integration der ukrainischen Kinder und Jugendlichen in die Schule als eher schlecht, 22 Prozent gar als eindeutig schlecht. Hinzu kommt, dass der Unterricht in den Brückenklassen den Lehrkräften einiges abverlangt. 38 Prozent geben an, dass der Zeitaufwand für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts definitiv höher sei als bei einer Regelklasse. Und: Mehr als jede dritte Lehrkraft bezeichnet den Unterricht in einer Brückenklasse als „sehr belastend“.
Für Schwägerl ist klar, dass sich etwas ändern muss: „Wir brauchen zusätzliches Personal zum Organisieren, Verwalten, Auffangen, Betreuen, Begleiten.“Das Ziel sei es, dass die Kinder bald am Regelunterricht teilnehmen könnten. Doch dass das im nächsten Schuljahr im großen Stil passieren werde, glaubt Schwägerl nicht. Er rechne vielmehr damit, dass nur eine niedrige einstellige Prozentzahl im Herbst ins bayerische Regelschulsystem wechseln werde. Ob mangelnde Sprachkenntnisse oder psychische Faktoren dafür die Ursache seien, könne man noch nicht genau sagen – generell aber glaubt Schwägerl, dass Sprachprobleme in vielen Fällen ein großes Hindernis darstellten. „Wir gehen davon aus und halten es auch für sinnvoll, die Brückenklassen im nächsten Jahr fortzusetzen“, sagt der Verbandsvorsitzende in einer Pressekonferenz.
Eine, die direkt aus der Praxis berichten kann, ist Dorothee Missy, die am Gymnasium in Mering (Landkreis Aichach-Friedberg) Lehrerin einer Brückenklasse ist. Die Kinder und Jugendlichen, die sie unterrichte, seien in einer absoluten Ausnahmesituation – und das merke man auch ganz deutlich an deren Verhalten. Missy spricht etwa von Aggressionen, mangelnder Motivation, Konzentrationsproblemen und Regelbrüchen. „Das sind eben die TraumaFolgen“, sagt sie. Und diese Traumata, unter denen viele der Schülerinnen und Schüler leiden, wirken sich auf ihre Leistungen aus. „Viele Kinder könnten vielleicht mehr, wenn es ihnen nicht so schlecht ginge. Viele sind so depressiv, dass sie sich kaum aufraffen können“, sagt Missy und fügt dann noch hinzu: „Aber es gibt durchaus auch Erfolgserlebnisse.“
Damit es mehr solcher Erfolge gibt, fordert auch Missy mehr therapeutische oder sozialpädagogische Unterstützung für die jungen Geflüchteten, und zwar möglichst in ihrer Muttersprache. „Dieser hohe Bedarf ist von uns Lehrkräften nicht abzudecken.“Außerdem würden Dolmetscher für Elternabende gebraucht.
Und noch etwas ist der Lehrerin wichtig: Die Brückenklassen dürften nicht zu groß sein. „Ich bin mit meinen 15 Schülerinnen und Schülern schon an der Grenze. Klassen, die größer sind, sind nicht händelbar und auch nicht zielführend.“Die Realität sieht mitunter anders aus. In der Umfrage des Philologenverbands geben 27 Prozent an, zwischen 16 und 20 Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Bei zehn Prozent sitzen sogar mehr als 20 Kinder in der Klasse.
Die Brückenklassen gibt es an Mittelschulen, Realschulen, Wirtschaftsschulen und Gymnasien – unterschiedliche Leistungsniveaus gibt es aber nicht. Eine Brückenklasse am Gymnasium ist also nicht anspruchsvoller als ihr Pendant an der Mittelschule. Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) findet es wichtig, dass die Integration der Kinder und Jugendlichen auf viele Schularten verteilt ist. „Das ist schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt sie. Vor der Einrichtung der Brückenklassen
sei das oft nicht so gewesen. Meist hätte die Integrationsarbeit vor allem an Förderzentren, Grund- und Mittelschulen stattgefunden.
Die Schulen hätten derzeit alle die gleichen Probleme, vor allem „fehlt es hinten und vorne an professionellem Personal“, sagt Fleischmann. Diese Kinder bräuchten nicht nur Pädagogen und Lehrerinnen, sondern auch Traumatherapeuten, Schulsozialarbeiterinnen und Schulpsychologen. Besonders vor dem Hintergrund, dass über den Winter noch mehr Flüchtlinge kommen könnten, sei es wichtig zu handeln. Der derzeitige Lehrermangel verschärfe das Problem zudem. „Es unterrichten Lehrerinnen und Lehrer in einer Brückenklasse, die dafür nicht ausgebildet sind und nicht Deutsch als Fremdsprache studiert haben.“
Im bayerischen Kultusministerium verweist man darauf, dass bereits viel passiert sei – auch schon vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Seit dem Schuljahr 2018/2019 bis zum Schuljahr 2022/2023 seien 300 Stellen für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sowie 200 Stellen für Schulsozialpädagoginnen und Schulsozialpädagogen geschaffen worden, sagt eine Ministeriumssprecherin auf Nachfrage. Bayern nehme in der schulpsychologischen Versorgung im Ländervergleich einen Spitzenplatz ein, heißt es aus dem Ministerium. Um die bayerischen Lehrkräfte im Umgang mit traumatisierten Schülerinnen und Schülern zu unterstützen, werde außerdem das bestehende Angebot der Lehrerfortbildung zum Thema „Traumata von Schülerinnen und Schülern mit Migrations- und Fluchterfahrung“ausgebaut.
„Es fehlt hinten und vorne an professionellem Personal“
Simone Fleischmann, BLLV