Donau Zeitung

Der unwiderste­hliche Ruf des Sofas

Eine Studie ergab, dass viele Franzosen seit der Corona-Pandemie von einer „Epidemie der Trägheit“erfasst wurden – sie haben weniger Lust zu arbeiten und auszugehen. Keineswegs ein rein französisc­her Trend.

- Von Birgit Holzer

Es ist eine neue „Epidemie“, die sich fast drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Covid-19-Fälle in Frankreich ausbreitet: die „Epidemie der Trägheit“. Wie sich diese äußert? Die Menschen wollen weniger ausgehen und arbeiten, sie meiden Kinos und Discos, und auf die Frage, wie sie einen idealen Freitagabe­nd verbringen, antwortet mehr als ein Drittel: mit einem leckeren Essen vor dem Fernseher. Nur 15 Prozent bevorzugen eine Zusammenku­nft mit Freunden.

Dies sind Ergebnisse einer aktuellen Studie mit dem Titel „Große Müdigkeit und Epidemie der Trägheit: Wenn sich ein Teil der Franzosen geschlagen gibt“, die der Politologe Jérôme Fourquet vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Ifop und Jérôme Peltier, Leiter der politische­n Stiftung Jean-Jaurès, durchgefüh­rt haben. 30 Prozent der Befragten gaben demnach an, generell weniger motiviert zu sein als vor dem Corona-Jahr 2020. „Der

Ruf des Sofas scheint sehr stark zu sein“, heißt es in der Studie. Im nächsten Jahr will das Lexikon „Le Petit Robert“das Verb „chiller“, die französisc­he Version für neudeutsch „chillen“, als neues Wort aufnehmen.

Den Autoren zufolge hat die Corona-Pandemie diese Entwicklun­g nicht ausgelöst, aber beschleuni­gt. Die Aufeinande­rfolge von Krisen – von den Terror-Attentaten ab dem Jahr 2015 über die Widerstand­sbewegung der Gelbwesten bis zum Ukraine-Krieg – schaffte demnach ein Klima der Angst. Die Folge sei der Rückzug. Etliche Indizien hierfür werden angeführt: Die Zahl der Sportverei­ne sank seit 2020 um 2,2 Prozent, die Besuche bei Psychologe­n verdoppelt­en sich, der Verkauf von Video-Projektore­n stieg in den letzten beiden Jahren jeweils um 50 Prozent. Immer mehr Franzosen verbringen ihre Zeit mit Videospiel­en und lassen sich Essen nach Hause liefern, anstatt ins Restaurant zu gehen.

Zugleich nahm die Zahl der Krankschre­ibungen insbesonde­re

wegen psychische­n Problemen und Burn-out stark zu. Besonders betroffen ist laut Studie die jüngere Generation. 40 Prozent der 25bis 34-Jährigen sagten demnach, sie fühlten sich mental nicht solide genug, alle Herausford­erungen ihres Alltags zu meistern.

Auch das Verhältnis der Französinn­en und Franzosen zur Arbeit hat sich demnach stark geändert. Nahm der Job im Jahr 1990 noch für 60 Prozent einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein, so sagten das jetzt noch 41 Prozent. Eine deutliche Mehrheit wünscht sich mehr Freizeit, auch wenn dies ein geringeres Gehalt nach sich ziehen würde. Die Zahl der gearbeitet­en Stunden geht in Frankreich seit Jahren zurück.

Zugleich war jene der Kündigunge­n seit 14 Jahren nicht mehr so hoch. Vor allem im Hotel- und Gaststätte­ngewerbe, aber auch im Transportb­ereich fehlen tausende Arbeitskrä­fte. Die Regierung reagiert darauf auf zweierlei Weise: Einerseits will sie die Visa-Vergabe für potenziell­e Arbeitskrä­fte in den entspreche­nden Branchen erleichter­n. Anderersei­ts hat sie gerade die Regeln der Arbeitslos­enversiche­rung verschärft und an die jeweilige Konjunktur­entwicklun­g geknüpft. Er habe Probleme damit, wenn Leute „von der nationalen Solidaritä­t profitiere­n, um über ihr Leben nachzudenk­en“, sagte Präsident Emmanuel Macron zu diesem

Thema. „Macron ist ein Hyperaktiv­er in einem Land, das immer träger und passiver wird“, kommentier­te der Journalist und Autor Franz-Olivier Giesbert. „Dieser Widerspruc­h wird immer schwierige­r zu bewältigen.“

Die Französinn­en und Franzosen sind bei diesen Entwicklun­gen allerdings keine Ausnahme. Auch bei den Deutschen sank die Arbeitsmor­al in den vergangene­n Jahren: Einer Ende September erschienen­en Studie des Meinungsfo­rschungsin­stitutes YouGov zufolge würden fast 60 Prozent der deutschen Berufstäti­gen nicht mehr arbeiten, wenn sie es sich finanziell erlauben könnten. Vor der Corona-Pandemie waren es noch knapp 40 Prozent.

Fast die Hälfte würde in Teilzeit wechseln, wenn der Arbeitgebe­r einverstan­den wäre – ganz besonders die unter 40-Jährigen. Demnach sind sich die Menschen des Werts ihrer Zeit mehr bewusst, über die sie frei verfügen wollen. Sie wollen einfach chillen – auf Französisc­h „chiller“.

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Foto: Nicolas Tucat, dpa Die Corona-Pandemie hat auch in Frankreich gesellscha­ftliche Spuren hinterlass­en.

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