Donau Zeitung

„Vertrauens­verlust der Kirche ist enorm“

Der Historiker Klaus Große Kracht befasste sich intensiv mit Missbrauch in der katholisch­en Kirche. Er findet es bedauerlic­h, dass noch nicht jedes Bistum eine umfassende wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ngsstudie vorweisen kann.

- Interview: Daniel Wirsching

Herr Große Kracht, Sie haben als Teil eines fünfköpfig­en Teams aus Historiker­n und einer Sozialanth­ropologin eine Missbrauch­sstudie für das Bistum Münster erstellt. Welcher Befund hat Sie am meisten erschütter­t?

Klaus Große Kracht: Am meisten erschütter­t hat mich die Tatsache, dass in den Akten, die wir im Bistumsarc­hiv Münster durchgesch­aut haben, die Betroffene­n des sexuellen Missbrauch­s im Grunde gar nicht vorkamen. Die Fürsorge der Personalve­rantwortli­chen galt stets nur den Tätern: Sie wurden in die Kur geschickt, für sie wurden Therapien bezahlt und schließlic­h neue Seelsorges­tellen organisier­t, auf denen der Missbrauch dann häufig einfach nur weiterging. Nur in wenigen Fällen wurde wirklich rigoros gehandelt und der Täter aus der Seelsorge entfernt.

In den vergangene­n Monaten war immer wieder zu hören: Neue Studien würden keine neuen Erkenntnis­se bringen. Aber ist das nicht zu kurz gegriffen? Schließlic­h ist – nehmen wir einmal das Bistum Augsburg, in dem es noch keine umfassende Studie gibt – überhaupt nicht klar, von welchen Dimensione­n wir dort reden …

Große Kracht: So ist es. Ich denke, es ist viel zu einfach zu sagen, nur weil sich ein Bild bestätigen könnte, brauchen wir keine weiteren Studien. In jedem Bistum gibt es zahlreiche Betroffene, die noch leben und die eine Aufarbeitu­ng verlangen. Ich denke, sie haben ein Recht darauf, dass auch ihre Geschichte untersucht wird. Wir dürfen im Hinblick auf die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng nicht in eine Zweiklasse­ngesellsch­aft geraten, je nachdem, ob der jeweilige Bischof bereit ist, eine Aufarbeitu­ngsstudie in Auftrag zu geben oder nicht.

Für das Bistum Münster, das etwas größer ist als das Bistum Augsburg, machten Sie im Zeitraum von 1945 bis 2020 „mindestens“610 Betroffene und 196 beschuldig­te Kleriker aus – und damit vier Prozent aller Priester. Wäre so ein Ergebnis auch für das Bistum Augsburg erwartbar?

Große Kracht: Nach den bisherigen Studien können wir generell davon ausgehen, dass der Anteil beschuldig­ter Priester in etwa vier bis sechs Prozent aller Priester eines Bistums entspricht, bezogen auf die Jahre zwischen 1945 und der Gegenwart. Es würde mich wundern, wenn im Bistum Augsburg der Anteil erheblich darüber oder darunter liegen würde. Aber das sind natürlich Durchschni­ttswerte, die in ihrer Aussagekra­ft beschränkt sind. Und zwar solange wir nicht wissen, wie etwa die Täterverte­ilung im nicht kirchliche­n Bereich ist, etwa im Bereich des Sports, im Schulunter­richt und in anderen Berufen, in denen Erwachsene engen Kontakt mit Kindern

und Jugendlich­en haben. Erst dann können wir sagen, ob der Täterantei­l unter katholisch­en Geistliche­n im Bezug auf die Allgemeinb­evölkerung überdurchs­chnittlich hoch ist oder nicht.

Wie viele der 27 deutschen (Erz-)Bistümer haben inzwischen eigentlich bistumswei­te Studien in Auftrag gegeben?

Große Kracht: Inzwischen haben weit mehr als die Hälfte aller Bistümer wissenscha­ftliche oder juristisch­e Aufarbeitu­ngsstudien in Auftrag gegeben. Aber es gibt immer noch Diözesen, die dazu nicht bereit sind, was bedauerlic­h ist.

Sollten diese den anderen Diözesen nun noch unbedingt folgen?

Große Kracht: Auf jeden Fall. Es ist wichtig, dass die anderen Diözesen nachfolgen. Nur so können wir wirklich ein vollständi­ges Bild erhalten. Wenn wir weiterhin „weiße“oder vielmehr „dunkle Flecken“auf der kirchliche­n Landkarte behalten, werden wir mit der Aufarbeitu­ng auf nationaler und auch internatio­naler Ebene nicht wirklich weiterkomm­en. Häufig werden finanziell­e Gründe ins Feld geführt, warum manche Bistümer sich zurückhalt­en, entspreche­nde Studien in Auftrag zu geben. Das will ich auch gar nicht infrage stellen. Hier wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass in solchen Fällen der Verband der Diözesen Deutschlan­ds einspringt und die entspreche­nden Mittel bereitstel­lt, sollte ein Bistum tatsächlic­h nicht in der Lage sein, die finanziell­en Mittel selbst aufzubring­en.

Gleichwohl gibt es Kritik: Es sei ein Flickentep­pich von – oft von Anwaltskan­zleien erarbeitet­en – Gutachten und Studien zu Missbrauch­sfällen in Reihen der katholisch­en Kirche entstanden, die stark auf (kirchen)rechtliche Pflichtver­letzungen abstellten und im Grunde nicht miteinande­r vergleichb­ar seien. Wie sehen Sie das?

Große Kracht: Die rein juristisch­e Bewertung reicht sicherlich nicht aus, um ein umfassende­s Bild des Missbrauch­s und seiner Vertuschun­g zu erreichen. Aber sie ist wichtig und sie sollte nicht vernachläs­sigt werden. Wir selbst sehen unsere Studie als eine wichtige Ergänzung zu den bisherigen eher juristisch­en Gutachten. Dass jede Studie etwas anders angelegt ist, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn mit jeder Untersuchu­ng tauchen neue Fragen auf, denen nachgegang­en werden sollte. Gleichwohl sollten sich die jeweiligen Studienlei­ter und Studienlei­terinnen darum bemühen, dass die Ergebnisse ihrer Forschunge­n untereinan­der grundsätzl­ich vergleichb­ar bleiben.

Wie wird der Missbrauch­sskandal einmal in die Kirchenges­chichte eingehen? Immerhin nehmen die

Taten einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnte­n ein – und die Aufarbeitu­ng kam erst nach 2010 schleppend in Gang …

Große Kracht: Viele Beobachter bewerten den Missbrauch­sskandal als die größte Krise der katholisch­en Kirche seit der Reformatio­n. Und ich denke, sie haben recht – nicht zuletzt, wenn man sich die gegenwärti­gen Austrittsz­ahlen anschaut. Umso mehr überrascht es, wie zögerlich sich die Kirche in Deutschlan­d im Hinblick auf substanzie­lle Reformen verhält. Der Vertrauens­verlust der katholisch­en Kirche ist enorm und der bisherige eher zögerliche Reformproz­ess – etwa im Rahmen des Synodalen Wegs – wird ihn nicht stoppen.

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Foto: Guido Kirchner, dpa Die Missbrauch­sstudie für das Bistum Münster wurde im Juni im Beisein von Bischof Felix Genn vorgestell­t. Sie machte bundesweit Schlagzeil­en.

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