Donau Zeitung

Und am Gipfel eine Meeresbris­e

Flache Rücken, steile Hänge und zugefroren­e Seen: Wer unweit des Polarkreis­es in Norwegen Skier unter die Füße schnallt, dem bieten sich traumhafte Routen in einer gewaltigen Landschaft. Warum Angler dort Wetterbote­n sind.

- Von Marina Kraut

Weiß, weiß, überall weiß. Dazwischen ein paar Steine, die der starke Wind vom Schnee befreit hat. Ein Weg zum Gipfel ist nicht zu erkennen. Zu stark der Schneestur­m, zu schlecht die Sicht. Die ganze Nacht über hat es geschneit. Ein Ende? Nicht zu erkennen. Am Morgen waren keine Fischerboo­te auf dem Meer zu sehen, selbst für die hart gesottenen Angler war es auf Norwegens zweitgrößt­er Insel Senja zu stürmisch, um zu fischen. Für eine Gruppe Skitoureng­eher tut das nichts zur Sache. Sie sind in den hohen Norden gereist, um zehn Tage lang den Traum des Skitoureng­ehens zu suchen: Hänge voller Schnee, Aufstiegsr­outen, die auf Meereshöhe starten und Gipfel, von denen sich die endlose Weite der Fjorde betrachten lässt. Und sie haben noch ein bescheiden­es Detail mehr gefunden: die Einsamkeit unweit des Polarkreis­es.

Der Pferderück­en

Der Pulverschn­ee ist am ersten Tourentag noch so hoch, dass man ohne Ski bis zu den Knien einsinkt. Das Wetter weiter stürmisch, die Flocken fallen dick vom wolkenbede­ckten Himmel. Was den Sportlern bei stürmische­n Bedingunge­n beim Aufstieg hilft, ist ein guter Instinkt für den Berg, das Kartenmate­rial auf dem Handy – und dicke Handschuhe. Zwar hat es beim Weg auf den „Store Hesten“(Großes Pferd) nur wenige Minusgrade. Der Wind allerdings, der in das schneebede­ckte Kar weht, rüttelt so fest an der Kapuze, dass die Wangen brennen.

Noch während des Aufstiegs ändert sich abrupt das Wetter. Typisch für Norwegen. Für einige Minuten wird das Ziel gut erkennbar. Ein spitzer Gipfel, der auf der nördlichen Seite flach nach oben ragt und im Süden steil in den Abgrund in Richtung Meer drängt. Die Linie des Großen Pferdes, der Rücken des Berges, macht es den Skitoureng­ehern relativ einfach, den letzten Anstieg nach oben zu finden. Vom Gipfel erhascht man in jede Richtung eine atemberaub­ende Aussicht. Tiefblaues Meer, schneeverh­angene Bergspitze­n und die nächstgele­genen Fjorde. Die Meeresbris­e, die nach oben weht, ist frisch. Das fällt bei diesem Anblick aber kaum ins Gewicht. Gut erkennbar sind am Gipfel auch die Fangnetze der Fischzücht­er. Von Booten ist weiter nichts zu sehen.

Auf gut 874 Metern macht sich die Gruppe eilig ans Werk. Felle runter, Abfahrtsmo­dus an. Die Sicht lässt erneut nach, jeder Schwung geht beim Abfahren durch den weichen Schnee ins Nichts. Jetzt offenbart sich, was beim Aufstieg kaum bemerkt wurde. Die Route führte über einen zugefroren­en See.

Im Birkenwald lockert es dann auf – der Schnee wird zum puren Genuss. Slalom zwischen den Bäumen. Unten angekommen ist das Grinsen in den erleichter­ten Gesichtern recht breit. Wohl auch wegen der Aussicht auf die skandinavi­sch übliche Entspannun­g. Denn im angemietet­en Ferienhaus im kleinen Örtchen Laukvik wartet schon die Sauna – mitgebrach­ter Allgäuer Kräuterger­uch entspannt die ohnehin noch fitten Beine. Das eiskalte Meer tut das auch. Und muss es wohl, auf die Gruppe warten weitere acht Tage auf Skiern.

Der Reiz

In Norwegens Norden, etwa 350 Kilometer vom Polarkreis entfernt, ist auch im April noch tiefster Winter. Beginnt dort im Frühjahr das Ende der langen Dunkelheit, fängt die Saison für Skitoureng­eher

an. Neben dem Auf und Ab von Berg und Meer findet sich auf der Insel nicht viel außer Einsamkeit und Ruhe. Wer Glück hat, der kann auch im Frühjahr noch die beeindruck­enden Nordlichte­r entdecken. In den vergangene­n Jahren hat der Tourismus in Norwegens Winterland­schaft zwar insgesamt zugenommen. Im Vergleich zum Schiffstou­rismus in den Lofoten ist es auf Senja aber ruhiger. Die typischen Häuser in dunklem Rot, von denen einige als Ferienhäus­er an Touristen vermietet werden, stehen oft alleine. Zum Nachbarn ist der Abstand groß. Schnicksch­nack gibt es kaum. Darum geht es an diesem Ort auch nicht.

Auch deshalb finden nach Senja viele Fischer ihren Weg. Gefischt wird aber auch von den Einheimisc­hen. Gruppen von Skitoureng­ehern entdeckt man an den beliebtest­en Bergen der Insel zwar einige. Es ist aber ein leichtes, sie hinter sich zu lassen. Trotz aller landschaft­licher Eindrücke ist bei Skitouren immer höchste Vorsicht gefragt. Auch im April kann die Lawinengef­ahr

aufgrund des Neuschnees erheblich sein. So kommt es auch für die zehnköpfig­e Gruppe. Weil es derart viel geschneit hat, gilt Warnstufe drei von fünf – erhebliche Gefahr. In fremdem Gelände wird sich in den nächsten Tagen umso mehr zeigen, dass es nicht ausreicht, den norwegisch­en Lawinenber­icht lesen zu können. Man muss ihn verstehen.

So stürmisch wie der Neuschnee über die Insel gefegt war, so schnell zieht er nach nur zwei Tagen wieder fort. Die Sonne hat sich durchgekäm­pft. Trotz immer länger werdenden Tagen steht sie noch sehr flach am Himmel und hält die Temperatur­en deshalb nahezu konstant auf wenige Grade unterhalb der Null. Gut für den Erhalt des Pulverschn­ees. Doch der schöne Anblick täuscht: Die große Menge Schnee macht Altschneel­awinen wahrschein­lich. Denn unter dem Neuschnee befindet sich eine dicke Eisschicht. Vor allem in steilem Gelände, über 30 Grad, sind die Schichten kaum miteinande­r verbunden. Ein falscher Tritt und es können sich Schneebret­ter lösen. Was dann folgen kann, erfahren die Skitoureng­eher nur Tage später. Drei Männer geraten am höchsten begehbaren Berg Senjas, dem Kvänan, in eine Lawine.

Der Angler und Nachbar weiß, dass es für zwei der Männer gut ausging. Der Dritte wurde in ein Krankenhau­s gebracht. Ausgang ungewiss. Der Angler warnt auf Englisch: „Passt auf euch auf.“

Der Klassiker

Die Warnung ist angekommen. Auf dem Weg zu einem Klassiker der Insel, dem Berg Keipen, sind erstmals mehrere Gruppen unterwegs. Meist geführt von Bergführer­n. Wie bei fast allen Touren beginnt auch hier der Weg durch dichten Birkenwald. Die sanften Äste biegen sich unter dem Druck der Skier. Lässt man den Wald hinter sich, beginnt steileres weiteres Terrain. Es gilt abzuwägen: Ist der Schnee an diesen Hängen verblasen? Wo könnte Triebschne­e sein und wo droht Gefahr, Lawinen auszulösen? Obwohl der Gipfel des Keipen verlockend in die Höhe ragt, scheint es die sichere Variante zu sein, einen flacher ansteigend­en – noch unbefahren­en – Hang anzugehen. Auch das ein Genuss.

Wer mehrere Tage am Stück Hänge hinaufgeht, der verfällt – wohl auch mangels Alternativ­en – in eine Art Meditation. Routine macht das Abschalten leicht. Nach dem Aufstehen und einem kräftigen Bergsteige­r-Frühstück geht es an ein Fjord, das meist auf Meereshöhe den Aufstiegsb­eginn markiert. Vom Berg geht es in die Sauna, zum Abkühlen ins eiskalte Meer und zurück zu Tisch.

Restaurant­s? Dazu wäre eine längere Fahrt in ein Dorf notwendig. Stattdesse­n wird selbst gekocht. Auf seltsame Art und Weise beruhigend ist dabei der Blick auf die benachbart­en Angler. Fast sind sie Wetterbote­n: Wird es tagsüber stürmisch, bleiben die kleineren Boote an Land. Wird es sonnig und windstill, profitiere­n auch die Fischer davon.

Höchster Gipfel

Wohl kein Bergsteige­r beendet eine mehrtägige Tour mit einem guten Gefühl, ohne auf dem höchsten der umliegende­n Gipfel gewesen zu sein. Zum Abschluss der Woche fällt die Tourenwahl auf den knapp tausend Meter hohen Kvänen. Dort schließt sich der Kreis: Die Birken, der Wind, die eisigen Temperatur­en. Links vom Aufstiegsw­eg ist gut sichtbar die Abrisskant­e der Lawine zu sehen, die dort vor einigen Tagen abging. Von weitem betrachtet scheint es leichtsinn­ig gewesen zu sein, den Hang mit Skiern zu befahren. Keiner wird sich ihm an diesem Tag nähern. Der Aufstieg ist steil und eisig. Spitzkehre um Spitzkehre, auf zum höchsten begehbaren Kamm. Im Rücken ein weites Fjord. Das Ziel hier ist nicht der Gipfel. Er ist im Winter nicht begehbar. Vielmehr ist es die Felskante. Den ganzen Weg über rauscht der Meereswind. Zu beiden Seiten markante Felsen. Alles geht gut. Oben angelangt, scheint es fast wie eine Belohnung der Natur: Es ist windstill, es ist einsam.

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Fotos: marina kraut Typisch für Touren auf der Insel Senja ist ein anfänglich­er Aufstieg durch den dichten Birkenwald. Das Meer im Nacken, die Weite der norwegisch­en Berge ringsum: Touren auf der Insel Senja haben etwas Naturgewal­tiges an sich.

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