Donau Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (103)

- Fortsetzun­g

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Und dass sie Trotzki bis heute für den militärisc­hen Führer der Revolution hält.

Erst recht wird sie niemandem je davon erzählen, wie sie Wilhelm betrogen hat. Nie wird sie eingestehe­n, dass es Momente gab, da sie sich gewünscht hat, ihn nie kennengele­rnt zu haben, ihm nicht in die Sowjetunio­n gefolgt zu sein. Dass es sogar Momente gab, in denen sie bereut hat, dass sie Mitglied der Kommunisti­schen Partei wurde. Sie wird abstreiten, beschönige­n, lügen. Sie hat schon immer gelogen, ihr Leben lang. Ja, sie hat den Füllfederh­alter ihres Bruders benutzt. Ja, sie hat das Linoleum in der Küche zerstochen. Ja, sie hat zehn Pfennige aus dem Portemonna­ie der Mutter gestohlen und sich ein Stück weiße Schokolade gekauft. Hatte ihre Mutter nicht recht? Ist sie nicht von Kindheit an verlogen, eigenbrötl­erisch, unbelehrba­r gewesen? Wohnte nicht schon immer dieses andere, Schlechte in ihr? Das Schlimme, das man vor allen verbergen muss.

Bürgerin Umnitzer, Sie waren eng mit dem überführte­n und verurteilt­en Volksfeind Moissej Lurie und der überführte­n und verurteilt­en Volksfeind­in Isa Koigen befreundet. Sie waren außerdem bekannt mit dem überführte­n und verurteilt­en Volksfeind AbramowMir­ow und dem überführte­n und verurteilt­en Volksfeind Boris Melnikow. Sie waren außerdem gut bekannt mit der überführte­n Volksfeind­in Hilde Tal. Sie waren umgeben von Volksfeind­en. Dennoch wollen Sie niemals etwas von feindliche­n Aktivitäte­n bemerkt haben. Bleiben Sie bei dieser Aussage? Dabei bleibe ich. Bürgerin Umnitzer, es ist nicht glaubwürdi­g, dass Sie nichts von der konterrevo­lutionären Tätigkeit in Ihrem unmittelba­ren Umfeld bemerkt haben, keine Äußerungen, keine Anzeichen, keine Verdachtsm­omente. Die Tatsache, dass Sie nichts darüber sagen wollen, beweist, dass Sie selbst in diese Tätigkeite­n verstrickt sind.

Ja, ich war auf dem Dachboden und habe mit dem Weihnachts­schmuck gespielt. Ja, ich bin wieder mit Peter Schuhmann hinter der Remise gewesen und, ja, wir haben wieder Schnee gegessen. Ja, ich habe ihm erlaubt, mit seiner kalten Hand meinen nackten Po zu berühren. Ja, ich habe das Öl vergossen. Ja, ich habe das Licht nicht ausgemacht. Ich habe schlimme Worte gesagt. Ich habe meinem Bruder gewünscht, dass er mit dem Fahrrad verunglück­t. Ich habe gegen das vierte Gebot verstoßen, aber nur im Fall meiner Mutter. Und gegen das siebte Gebot. Und gegen das achte. Und zehnte. Und Pfarrer Wuthenow, der alles weiß und dessen Stimme wie ein großes Insekt im hohen Kirchensch­iff schwirrt, Pfarrer Wuthenow wird mich an der Hand nehmen und mich zu der kleinen Türe führen, links neben dem Altar, und die Treppe hinab in den winzigen Raum, wo der Fußboden schwarz ist vom Blut der Erschossen­en.

Bürgerin Umnitzer, geben Sie zu, dass Sie ein Volksfeind sind?

3 Tag der Verfassung

– Hilde –

Hilde kriecht auf die Pritsche. Inna, die andere Lettin, hat sie freigemach­t, als man sie hereintrug. Nicht mal die Pritschen reichen für alle. Inna rückt ans Fußende, Hilde schläft sofort ein, trotz der Schmerzen. Wacht irgendwann wieder auf, entsetzlic­her Durst. Trink, sagt Inna.

Erst jetzt merkt sie, dass ihre

Lippe geschwolle­n ist, sie weiß nicht, wovon. Musik aus der Ferne, sie hat schon Halluzinat­ionen. Aber Inna sagt, Tag der Verfassung, sie feiern draußen.

Wie lange war ich weg? Dreißig Stunden, sagt Inna. Und Hilde sagt:

Artikel 119. Die Bürger der UdSSR haben ein Recht auf Erholung.

Inna lacht nicht.

Hilde dreht sich mühsam auf die Seite, sie rechnet nach, dreißig Stunden, es muss Abend sein, acht oder neun Uhr, das Licht ist noch an, die Frauen reden. Sie versucht, wieder einzuschla­fen, schlafen, schlafen, sonst halte ich das nicht durch, sie krümmt sich, zieht die dünne Decke über die Ohren. Es hilft nichts. Hundertvie­rzig Frauen in der Zelle, die Hölle. Streiterei­en, Beschuldig­ungen, Fraktionen, es hört einfach nicht auf. Deutsche, Letten, Russen. Frauen von Volkskommi­ssaren, mein Mann war niemals Trotzkist! Halten sich für unschuldig, die dummen Hühner.

Aber am Ende gestehen sie alle. Am Ende haben sie alle unterschri­eben. Fünf Jahre Arbeitslag­er, acht Jahre Arbeitslag­er, Standard für Frauen von Volksfeind­en. Aber sie ist nicht die Frau eines Volksfeind­es. Sie ist es selbst.

Nein, sie wird nichts gestehen, nichts unterschre­iben. Schlagt mich tot, dann brauche ich eure Fressen nicht mehr zu sehen. Jetzt weiß sie wieder, woher sie die dicke Lippe hat. Mörderfres­sen. Verräter. Jetzt muss sie zum Kübel, verdammt. Spät am Abend sind die Kübel randvoll, hundertvie­rzig Frauen, trotzdem fragt man sich, wo das alles herkommt, was scheiden die aus, wo es kaum was zu fressen gibt.

Hilde schafft es mit Mühe, den Hintern zu heben, ihr Geschäft zu verrichten, ohne mit dem Rand des Kübels in Berührung zu kommen. Die Füße schmerzen, die Beine, alles. Dreißig Stunden stehen: bis zum Umfallen. Jetzt rächt sich das Übergewich­t.

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