Donau Zeitung

Der verkannte Reformer Jiang Zemin

Nachruf auf Chinas früheren Staatschef

- Fabian Kretschmer

Zu Lebzeiten wurde der klein gewachsene Mann mit der riesigen Hornbrille und dem verschmitz­ten Lächeln oftmals belächelt. Doch posthum wird er zweifelsoh­ne als kluger Wirtschaft­sreformer in die Geschichts­bücher eingehen: Jiang Zemin, Chinas Staatspräs­ident von 1993 bis 2003, ist mit 96 Jahren in Shanghai an den Folgen seiner Leukämie-Erkrankung verstorben. Die Bevölkerun­g hat millionenf­ach Beileidsbe­kundungen auf den sozialen Medien geteilt. „Er repräsenti­erte für mich die sorgenfrei­e Zeit meiner Kindheit“, schreibt eine Chinesin auf der Plattform Wechat. Ein anderer User kommentier­t lakonisch: „Der Senior ist von uns gegangen. Wir werden ihn vermissen.“

Die große Anteilnahm­e könnte bei der politische­n Führung für Nervosität sorgen. Denn 1989 war es die Trauer um den verstorben­en, reformorie­ntierten Generalsek­retär Hu Yaobang, die die Protestbew­egung Pekinger Studenten auf dem Tiananmen-Platz mit auslöste. Heute ist der amtierende Präsident Xi Jinping mit Demonstrat­ionen konfrontie­rt, die er mit Polizeiprä­senz zu ersticken versucht.

Jiang Zemin hatte nach seiner zehnjährig­en Amtszeit ein ambivalent­es Erbe hinterlass­en: So ließ er unter anderem die Falun GongSekte mit äußerster Brutalität verfolgen. Wenig tat er gegen die grassieren­de Korruption innerhalb der Parteiführ­ung. Auf der anderen Seite sorgte er jedoch mit seinen ökonomisch­en Reformen dafür,

dass China der Anschluss an die Weltwirtsc­haft gelang.

Für viele junge Chinesen wird der im ostchinesi­schen Jiangsu geborene Jiang vor allem für eine legendäre Pressekonf­erenz in Erinnerung bleiben, die der damalige Staatspräs­ident im Jahr 2000 in Hongkong gab. Als eine junge Reporterin eine kritische Frage stellte, sprang der 1,74 Meter große Jiang aus seinem roten Sessel – und wechselte unverhofft in sein brüchiges Englisch: „Ihr Medien müsst noch mehr lernen! Die Fragen, die ihr stellt, sind zu einfach, manchmal naiv!“Das war neu: Ein Präsident, der sich offen den Fragen der Journalist­en stellt und sich nahbar wie fehlbar gibt. In der Ära Xi Jinping scheint das undenkbar.

Tatsächlic­h hatte Jiang kein gutes Verhältnis zum derzeitige­n Staatschef. Jiang tanzte schon mal Cha-Cha-Cha mit dem philippini­schen Präsidente­n, stimmte vor Reportern Lieder von Elvis Presley an oder ließ sich vom legendären US-Fernsehjou­rnalisten Mike Wallace interviewe­n. Wenn viele Chinesen nun also das Gefühl haben, dass eine Ära zu Ende geht, erklärt dies die melancholi­sche Nostalgie für einen Präsidente­n, der während seiner Amtszeit nicht sonderlich beliebt war – heute aber positiver gesehen wird. Vielleicht auch, weil er das tat, was Xi Jinping im Herbst verweigert hat: Auf dem Höhepunkt seiner Macht räumte Jiang Zemin nach zehn Jahren Präsidents­chaft seinen Sessel.

 ?? Foto: Schiefelbe­in, AP, dpa ?? Mit 96 Jahren gestorben: Ex-Präsident Jiang Zemin.
Foto: Schiefelbe­in, AP, dpa Mit 96 Jahren gestorben: Ex-Präsident Jiang Zemin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany