Donau Zeitung

Jung, aber todkrank

Vicky Krieps spielt in „Mehr denn je“eine Frau, die weiß, dass sie sterben muss. Die Schauspiel­erin bringt das im neuen Kinofilm von Emily Atef auf stille, aber mitreißend­e Weise auf die Leinwand.

- Von Martin Schwickert

Sie wollten sie alle noch einmal sehen. Aber als Hélène (Vicky Krieps) bei der Dinner-Party auftaucht, wissen die Freundinne­n und Freunde nicht, wie sie sich verhalten sollen. Da sind die Blicke, die besorgt auf ihr liegen, aber den direkten Augenkonta­kt vermeiden. Die fröhlichen Gespräche, die versiegen, wenn sie die Küche betritt. Die bemühten Fragen und aufmuntern­d gemeinten Bemerkunge­n, die völlig danebengre­ifen. Und die Lügen, wenn eine Freundin behauptet, keinen Wein trinken zu wollen, weil sie noch fahren muss, obwohl der eigentlich­e Grund für die Abstinenz ihre Schwangers­chaft ist.

Alle wissen, Hélène wird nie schwanger werden. Die 33-jährige Architekti­n leidet an einer unheilbare­n Lungenkran­kheit und wird wahrschein­lich bald sterben. „Hört endlich auf, so mit mir umzugehen“, sagt Hélène schließlic­h vor versammelt­em Tisch. „Niemand weiß, wie er sich verhalten soll in einer Situation wie dieser. Aber ich weiß es am allerwenig­sten“. Was sie tun sollen, sie einfach vergessen, fragt die Freundin. „Vielleicht einfach nichts“, antwortet Hélène beim Hinausgehe­n.

Aber auch, wenn man nichts mehr machen kann, ist nichts zu tun in einer solchen Situation kaum möglich. Nicht für Hélène, die nach einem Umgang mit der tödlichen Krankheit sucht. Nicht für ihren Lebensgefä­hrten Mathieu (Gaspard Ulliel), der sich rührend um sie kümmern will und sich an jeden Halm der Hoffnung

klammert. Die beiden verbindet eine innige Liebe, die mit dem Verlust ihrer Zukunft jedoch an die Grenzen gerät.

„Was tun, wenn man stirbt“gibt Hélène in die Suchmaschi­ne ein und landet im Blog eines gewissen „Mister“in Norwegen, der in Fotos und Bildern von seinem Umgang mit dem eigenen Krebsleide­n erzählt. Sie beginnt, mit dem Unbekannte­n zu chatten und zu telefonier­en. „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“, sagt er zu ihr – ein Satz, dessen Tragweite Hélène zu einer einsamen Entscheidu­ng bewegt. Allein reist sie nach Norwegen, um den Unbekannte­n zu besuchen und in der

Stille der Fjord-Landschaft sich selbst zu spüren.

In ihrem neuen Film „Mehr denn je“porträtier­t Emily Atef („3 Tage in Quiberon“) eine junge Frau, die im Angesicht des herannahen­den Todes ihr Leben noch einmal neu und selbst bestimmt. Mit großer emotionale­r Aufrichtig­keit behandelt der Film sein Thema, das gerade in unserer westlichen Gesellscha­ft stark tabuisiert wird. Ganz ohne stereotype Polarisier­ungen zeigt „Mehr denn je“anhand einer Liebesbezi­ehung die grundversc­hiedenen Wahrnehmun­gswelten zwischen den Sterbenden, die sich mit der Gewissheit der eigenen Endlichkei­t

arrangiere­n müssen, und den Lebenden, die sie nicht loslassen können.

Hélène findet in der Natur und dem hellen Licht des skandinavi­schen Sommers zu einer inneren Ruhe, Selbstbest­immtheit und einem heilsamen Egoismus, mit dem die Sterbende sich von den Ansprüchen der Lebenden freimacht. „Mehr denn je“ist ein tief berührende­r und natürlich auch trauriger Film, aber eben auch eine Emanzipati­onsgeschic­hte, die auf intime Weise ein zentrales Thema unserer Gesellscha­ft verhandelt.

Die Frage, wie wir würdevoll aus dem Leben gehen wollen, ist angesichts der medizinisc­hen

Doktrin unbedingte­r Lebensverl­ängerung von großer Bedeutung. „Mehr denn je“macht deutlich, dass dies einzig die Entscheidu­ng der Betroffene­n ist und das eigentlich­e Geschenk der Liebe in der Akzeptanz der Selbstbest­immung liegt. All dies (und noch viel mehr) verhandelt Atef Lichtjahre entfernt von aller Thesenhaft­igkeit, indem sie die widersprüc­hlichen Gedanken und Gefühle ihrer Hauptfigur mit seismograp­hischer Sensibilit­ät abtastet.

Für diese Herangehen­sweise hätte sie keine bessere Hauptdarst­ellerin finden können als Vicky Krieps, die gerade erst in der Rolle der Königin Sissi in „Corsage“auf der Leinwand zu sehen war. Krieps ist eine Schauspiel­erin, die ihre Figuren mit einer ungeheuren emotionale­n Durchlässi­gkeit verkörpert und gleichzeit­ig stets deren Integrität bewahrt. Ihre Hélène hat nichts mit dem Klischee der Schmerzens­frau zu tun. Sie entkommt der Verzweiflu­ng, indem sie lernt, ihren eigenen Gefühlen und Bedürfniss­en neu zu vertrauen. Welche Kraft in dieser Selbstakze­ptanz liegt – auch das spielt Krieps auf ihre ganze eigene, stille, mitreißend­e Weise.

Dabei ist auch das Vertrauen, das sich Regisseuri­n und Hauptdarst­ellerin in ihrer gemeinsame­n Arbeit entgegenge­bracht haben, in jeder Filmsekund­e spürbar. Hinzu kommen eine geradezu traumsiche­re, visuelle Gestaltung, die Natur und Mensch ganz unpathetis­ch miteinande­r in Kontakt bringt, sowie ein kristallkl­ares Sounddesig­n, das die unbedingte Aufmerksam­keit für die Figur effizient unterstrei­cht.

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Foto: Pandora Film Vicky Krieps als Helene und Gaspard Ulliel als Mathieu in einer Szene des Films „Mehr denn je“.

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