Eugen Ruge: Metropol (106)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach …
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Nur was macht man im Urlaub – ohne Schmetterlingsausrüstung? Der schlimmste Urlaub seines Lebens. Da war der Krieg lustiger… Ganze zwei Mal hat er es in diesem Jahr geschafft, auf die Pirsch zu gehen. Gefangen hat er nichts. Und als er endlich dazu gekommen ist, den Ulmen-Zipfelfalter aufzuspannen, mit dem doppelten W in der Postdiskalregion, ist er ihm zerbrochen. Da hätte er heulen können.
Einmal hat er hundertachtunddreißig Todesurteile unterschrieben in zwei Tagen. Hundertachtunddreißig! Gewiss, die Troikas, die Jeshow neuerdings im ganzen Land einsetzt, schaffen mehr. Überbieten sich gegenseitig in Stachanow-Manier. Angeblich gibt es welche, die haben schon vierhundert Leute am Tag verurteilt. Aber erstens sind sie zu dritt, und wenn man vierhundert durch drei teilt, kommt man auf hundertdreiunddreißig, er hat es ausgerechnet. Das wären fünf weniger als sein Rekord. Und außerdem haben seine Fälle eine gewisse Bedeutung: Marschälle, Korpsführer, Divisionskommandeure – da möchte man doch wenigstens mal die Akte durchblättern.
Vierhundert Urteile am Tag. Wassili Wassiljewitsch versucht, vierhundert Urteile durch zwölf Arbeitsstunden zu teilen. Sagen wir siebenunddreißig in der Stunde, das heißt weniger als zwei Minuten pro Urteil. Nein, das ist irgendwie nicht seriös.
Leichter Schneefall. Wassili
Wassiljewitsch versucht, ein Taxi zu fangen, er ist nicht der Einzige. Sehr ungewöhnlich, dass ein General in Uniform nach einem Taxi winkt. Zivil wäre besser gewesen, aber er kann ja schließlich nicht nach Hause gehen und sich umziehen. Das glaubt ihm Annuschka nie im Leben, dass er in Zivil zu einer offiziellen Veranstaltung geht. Denn so hat er es dargestellt, das anschließende Essen: Sei froh, dass du nicht geladen bist! Und Annuschka war froh.
Jetzt hält ein Wagen, leider ein paar Meter entfernt. Schon hat ein anderer Mann die Hand am Türgriff. Aber nun nutzt Wassili Wassiljewitsch entschlossen den Vorteil der Uniform.
Entschuldigen Sie, Bürger, es ist dringend.
Der Bürger weicht schweigend zurück und überlässt ihm das Taxi. Nach Sokolniki, sagt Wassili Wassiljewitsch, Perewedenowski pereulok. Und der Fahrer pariert mit: Jawohl, Genosse General. Er wendet das Automobil, eine ziemlich neue Emka, und fährt Richtung Süden. Offenbar will er das Zentrum umfahren, das ist vernünftig nach der Parade. Beunruhigend ist, dass er fortwährend in den Rückspiegel glotzt.
Schauen Sie auf die Straße, Genosse, sagt Wassili Wassiljewitsch.
Jawohl, Genosse General, sagt der Fahrer. Scheint ein Georgier zu sein, dem Akzent nach. Seine schwarzen Augen bewegen sich im Rückspiegel wie in einer Schießscharte. Bleiben immer wieder auf Höhe Wassili Wassiljewitschs stehen. Der Fahrer biegt nach links in den Gartenring ein. Die Augen tauchen kurz ab, tauchen wieder auf. Plötzlich fängt er an zu sprechen:
Genosse General, gestatten Sie eine Frage.
Wassili Wassiljewitsch gestattet. Und der Fahrer beginnt, von seinem Bruder zu erzählen. Dieser Bruder, ein gewisser Wachtang, sei stellvertretender Vorsitzender einer Sowchose im Kuban gewesen, und jemand habe ihn denunziert. Daraufhin sei er aus der Partei ausgeschlossen und entlassen worden. Die Sache ist, Genosse General… Weder weiß er, wer ihn denunziert hat, noch, was ihm eigentlich vorgeworfen wird. Er steht am Pranger und weiß nicht, weswegen. Er hat keine Chance, sich zu verteidigen!
Der Fahrer schreit fast vor Erregung. Unwillkürlich prüft Wassili Wassiljewitsch, ob sein Revolver auch wirklich in der Revolvertasche sitzt - aber nein, natürlich nicht! Auf der Tribüne war das Tragen von Waffen verboten. Wassili Wassiljewitsch wird unbehaglich zumute.
Bürger Chauffeur, ich bin Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR. Das ist nicht meine Zuständigkeit …
Genosse General, für Sie wäre es doch ein Leichtes! Ein einziger Brief an das Gebietskomitee! Zwei Zeilen würden genügen: Überprüfen Sie den Fall Soundso! Ich gebe Ihnen Namen und Anschrift … Sie sind doch für die Gerechtigkeit!
Bürger … Nanitaschwili, Josif! Wie Stalin. Ich bin Parteimitglied.
Genosse Nanitaschwili, Sie haben vergessen, den Zähler einzuschalten.
Ich nehme von Ihnen kein Geld, schreit der Mann. Schreiben Sie zwei Zeilen für meinen Bruder. Erweisen Sie der kommunistischen Gerechtigkeit einen Dienst! Zwei Zeilen, das kostet Sie eine Minute!
Die Augen schwimmen im Spiegel, zucken hin und her. Das Automobil rast mit beträchtlicher Geschwindigkeit den Gartenring entlang.
Genosse Nanitaschwili, bitte schauen Sie auf die Straße.
Ich schaue auf die Straße, ich schaue auf die Straße! Aber versprechen Sie mir, Genosse General, dass Sie zwei Zeilen für meinen Bruder schreiben.
Einverstanden, ich mache das. Aber bitte schauen Sie auf die Straße.
Sie versprechen es, Genosse General?