Donau Zeitung

„Helfen, den Winter zu überstehen“

Der Migrations­forscher Gerald Knaus erklärt, warum Putins Terror noch Millionen Ukrainer zur Flucht zwingen könnte und wie sehr die Menschenre­chtsverlet­zungen an den Außengrenz­en die Glaubwürdi­gkeit der EU zerstören.

- Interview: Stefan Küpper

Herr Knaus, beim Treffen der 27 EU-Innenminis­ter hat es – erneut – keine Fortschrit­te bei der Verteilung von Flüchtende­n in Europa gegeben. Sehen Sie sich bestätigt?

Gerald Knaus: Wir sehen seit Jahren, dass die EU für praktikabl­e Antworten auf viele Fragen, die irreguläre Migration und Flucht betreffen, schlicht nicht in der Lage ist, umsetzbare Lösungen zu finden. Der Grund dafür ist offensicht­lich: Die Interessen und Werte der 27 gehen zu weit auseinande­r.

Gelöst werden kann diese Frage aber nur europäisch. Was also wäre das bessere Format?

Knaus: Vieles kann man national und in Koalition viel besser lösen. Manche EU-Staaten sind mit einer Politik der Gewalt an den Außengrenz­en, mit Pushbacks und systematis­cher Verletzung von Konvention­en und EU-Recht durchaus zufrieden. Und vieles, was EU-Mitgliedst­aaten Partnerlän­dern anbieten müssten, um anders als mit der derzeitige­n Politik irreguläre Migration human zu kontrollie­ren und zu reduzieren, kann die EU gar nicht anbieten.

Nämlich?

Knaus: Wir brauchen Kooperatio­nsangebote an Drittstaat­en, Herkunftsl­änder und Transitlän­der. Wir brauchen dabei legale Migrations­möglichkei­ten, Arbeitskon­tingente, Stipendien, am besten verbunden mit Stichtagsr­egelungen für Abschiebun­gen bei Einigungen. Doch all das können nur Mitgliedst­aaten anbieten, nicht die europäisch­en Institutio­nen.

Der Frontex-Skandal, die Pushbacks, die vielen Toten: Was sind die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion, was sind die EU-Grundrecht­echarta, was die Genfer Flüchtling­skonventio­n, was das Europarech­t noch wert?

Knaus: Es geht heute längst nicht mehr nur um vereinzelt­e Verletzung­en von internatio­nalem und EU-Recht. Es geht darum, dass Staaten systematis­ch – und im Falle Polens und Ungarns ganz offen – den Kern der Flüchtling­skonventio­n aussetzen, das Verbot des Zurückstoß­ens ohne Verfahren. Doch selbst daran gibt es keine klare Kritik vonseiten anderer Regierunge­n. Ein konkretes Beispiel: Am 8. Dezember soll entschiede­n werden, dass Kroatien dem SchengenRa­um beitreten kann. Dem ist ein jahrelange­r Prozess vorausgega­ngen, in dem die EU-Institutio­nen beurteilen sollten, ob Kroatien die Bedingunge­n dafür erfüllt. Wir wissen aber durch unzählige Berichte kroatische­r und internatio­naler

Institutio­nen, Medien, NGOs und zuletzt des Europäisch­en Komitees zur Verhinderu­ng von Folter (CPT) des Europarats, dass an der kroatische­n Außengrenz­e systematis­ch Recht gebrochen wird. Der Beobachtun­gsprozess durch die EU-Institutio­nen war hier eine Farce. Und das ist zutiefst beunruhige­nd.

Auf wie viele Flüchtende muss sich die EU im Winter einstellen?

Knaus: Die Zahl der Menschen, die irregulär über das Mittelmeer nach Europa kommen, ist dieses Jahr nicht außergewöh­nlich hoch. Nach Griechenla­nd kamen über den Seeund Landweg bis jetzt etwa 16.000, von Afrika nach Spanien etwa 30.000; erhöht hat sich dagegen die Zahl jener, die über das Mittelmeer nach Italien kamen: auf über 90.000. Doch insgesamt erklärt das nicht das Gefühl einer Ausnahmesi­tuation, das viele in Deutschlan­d teilen. Der Grund dafür liegt in der Flucht als Folge von Putins

Überfall auf die Ukraine. Tatsächlic­h ist die Vertreibun­g der Ukrainerin­nen, vor allem Frauen und Kinder, seit dem 24. Februar schon jetzt die größte Fluchtkata­strophe in Europa seit den 40er Jahren. Und wir müssen erwarten, dass Putins Terror gegen Zivilisten tatsächlic­h noch Millionen Weiterer zwingen könnte, die Ukraine zu verlassen. Auch wenn viele bisher zeigten, dass sie ihr Land nicht verlassen wollen.

Die bayerische­n Städte und Kommunen seien an ihrer Kapazitäts­grenze, sagte zuletzt der Präsident des Bayerische­n Gemeindeta­ges. Ist Deutschlan­d überforder­t? Wiederholt sich 2015?

Knaus: Die Ursachen und Art der Flucht sind 2022 vollkommen anders als 2015. Tschechien und Polen haben bislang auch dreimal mehr Ukrainer pro Kopf aufgenomme­n als Deutschlan­d. Im kleineren Warschau sind mehr als doppelt so viele ukrainisch­e Geflüchtet­e wie in Berlin. Das geht nur, weil es private Aufnahmen gibt. Auch in Deutschlan­d wird es diesen Winter nicht gehen, ohne dass zusätzlich­e Flüchtling­e in privaten Haushalten unterkomme­n. Da muss man ansetzen, wie im „Homes for Ukraine“-Programm der britischen Regierung. Mein Vorschlag an das deutsche Innenminis­terium ist, denjenigen, die sich bereit erklären, für vier oder sechs Monate Flüchtende aus der Ukraine aufzunehme­n, dafür jeden Monat eine steuerfrei­e Dankespaus­chale von 500 Euro zu bezahlen. Nicht als Miete, sondern als Anerkennun­g. Umfragen zeigen, dass 20 Prozent der Haushalte dazu bereit wären. 20 Prozent nur aller Haushalte, die mehr als 100 Quadratmet­er Wohnraum haben, wären etwa 800.000. Doch diesen sollte man helfen.

Wie genau soll das organisier­t werden?

Knaus: Wir brauchen eine Plattform, bei der sich die Hilfsberei­ten anmelden können. Es wäre für viele geflüchtet­e Frauen und Kinder unendlich viel einfacher, als wenn ihnen erst Wohngeld ausgezahlt werden muss und sie dann selbststän­dig für ein paar Monate Mietverträ­ge abschließe­n müssen. Am besten wäre eine Plattform, an der sich mehr Länder in Europa beteiligen, um Ähnliches auch in Frankreich und Italien zu organisier­en und dort 500 Euro pro Monat so anzubieten. Das würde Unterschie­de bei der Unterstütz­ung, die die Länder gewähren, erheblich reduzieren. Und im Idealfall für eine fairere Verteilung der Flüchtende­n in Europa sorgen.

Wann ist für Sie die Grenze der Aufnahmefä­higkeit erreicht?

Knaus: Diese wird letztlich durch das Verhalten in der Gesellscha­ft bestimmt. Was wir derzeit in Polen oder Tschechien erleben, hätte vor einem Jahr kaum jemand für möglich gehalten – auch nicht, dass Tschechien bei 11 Millionen Einwohnern über 450.000 Anträge auf temporären Schutz entgegenge­nommen hat. Das ist eine historisch­e Leistung. Dabei kommt es jetzt darauf an, den Ukrainern zu helfen, diesen Winter zu überstehen, in der Ukraine oder bei uns. Dann werden wahrschein­lich viele ab April wieder zurückkehr­en, wie 2022. Es gilt auch: Je besser die Ukraine sich schützen kann, desto schneller können Menschen zurück. So sind dann auch Kampfpanze­r ein wichtiger Beitrag zur Fluchtursa­chenbekämp­fung.

Wie kommt die EU aus ihrem

Glaubwürdi­gkeitsdile­mma heraus: nämlich sich einerseits den Menschenre­chten verpflicht­et zu fühlen und diese anderersei­ts an den Außengrenz­en buchstäbli­ch tausendfac­h mit Füßen zu treten?

Knaus: Für eine Rechtsgeme­inschaft wie die EU ist ein Zustand, in dem an ihren Grenzen Rechte und Konvention­en regelmäßig und systematis­ch gebrochen werden, in dem staatliche Organe Parlamente und die Öffentlich­keit anlügen, untragbar. Gleichzeit­ig aber braucht es politische Strategien, um Regierunge­n und Mehrheiten davon zu überzeugen, dass es humanitäre Alternativ­en zu dieser Politik gibt, die nicht auf einen totalen Kontrollve­rlust hinauslauf­en.

Wie wollen Sie die Skeptiker einbinden?

Knaus: Man muss zeigen, wie das durch praktikabl­e Migrations­partnersch­aften mit anderen Ländern gehen kann. Und so aus dem Kreislauf der ewig gleichen, sterilen Debatten ausbrechen.

Wie sollen die organisier­t sein?

Knaus: Nehmen wir das Beispiel Zypern: Wir haben in Zypern die höchste Zahl von Asylanträg­en pro Kopf in der Welt. Zugleich hat die Republik Zypern keine Kontrolle darüber, wer über den türkisch besetzten Norden einreist. So wächst die Zahl der Einreisend­en, die aus Afrika mit Studentenv­isa über den Norden kommen und in der Republik einen Asylantrag stellen. Deren Regierung aber will keine Mauer bauen, um die Insel nicht zu teilen. In dieser Situation sollte man den Hauptherku­nftsländer­n Angebote machen, damit diese – ab einem Stichtag – jeden ihrer Bürger, der keinen Schutz erhält, nach einem schnellen Verfahren zurücknehm­en. Und dafür muss man diesen Ländern aber etwas anbieten: legale Stipendien, legale Mobilität, auch Arbeitskon­tingente. Das könnte Deutschlan­d mit anderen Ländern am Beispiel Zypern, aber auch für das zentrale Mittelmeer als Pilotproje­kt beweisen. Klar ist, das kleine Zypern braucht dabei Unterstütz­ung.

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Foto:Patrick Pleul, dpa (Archivbild) Das Jahr 2015 hat sich als Jahr der Flüchtling­skrise vielen Menschen ins Gedächtnis eingebrann­t.

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