Belohnung für eine Haltung
Höflich und respektvoll, aber überzeugend und kraftvoll vollbringt Japan eine Sensation. Damit ist das Team bei der WM der Gegenentwurf zu den sich verheddernden Deutschen.
Doha Am Ende verabschiedete sich Hajime Moriyasu, akkurat mit Schlips und Anzug gekleidet, neben dem Podium mit einer tiefen Verbeugung. Ihn schien der viele Applaus, der auf den Nationaltrainer Japans stellvertretend für seine Mannschaft im klimatisierten Zeltbau neben dem Khalifa Stadium herabregnete wie Lotusblüten, fast zu viel der Anerkennung. Der 54-Jährige, ein Vertreter konservativer Werte, mag meist ein bisschen zu fachlich rüberkommen, aber diesmal erzählte er von seiner eigenen Geschichte.
Fast 30 Jahre ist es her, dass eine japanische Nationalelf mit ihm als Mittelfeldspieler mal in letzter Minute die WM-Qualifikation verspielte. Spielort damals wie heute Doha. Die Zeit heilt offenbar doch alle Wunden, wenn an diesem Ort sich alles noch zum Guten wendet: „Diese Spieler spielen in einem neuen Zeitalter, das ist ein neuer Fußball.“
Die in der Heimat frenetisch gefeierten „Samurai Blue“haben zu dieser WM eine Haltung mitgebracht. Ihr Gesamtauftritt ist geprägt von einem bewundernswerten Spirit, großer Freude und dem Fokus auf den Fußball. Japanische
Stehaufmännchen bildeten das Kontrastprogramm zu den sich verheddernden Deutschen, weil sie nicht zufällig nach einem 0:1-Rückstand zur Pause nach demselben Strickmuster wie im ersten Gruppenspiel nun auch die spanischen Schöngeister überrumpelten. „Auch für Asien wird die Tatsache, dass wir gegen Deutschland und Spanien, TopLänder der Welt, gewinnen konnten, viel Selbstvertrauen geben“, meinte Moriyasu stolz.
Seinen Effizienzkünstlern reichten keine 18 Prozent Ballbesitz, um sich sogar den Gruppensieg zu sichern. Dass Japan nun bereits am Montag gegen den Vizeweltmeister Kroatien antreten muss, während Spanien erst einen Tag später gegen Marokko spielt, störte niemand. Ihr höflicher Respekt gebietet, sich Klagen oder Belehrungen zu ersparen. Siegtorschütze Ao Tanaka beantwortete erst in der Pressekonferenz, dann in der Mixed Zone geduldig alle Fragen.
Hatte der Ball vor seinem Siegtor vielleicht schon die Torauslinie überschritten? „Für mich war er halb aus, aber so richtig konnte ich es nicht sehen. Wenn das Tor nicht gezählt hätte, hätte ich es akzeptiert“, sagte der 24-Jährige. Später tauchten Standbilder auf, dass Videoassistent
Fernando Guerrero aus Mexiko tatsächlich den richtigen Entschluss gefällt hatte; wenige Millimeter fehlten, damit der Ball in vollem Durchmesser die Linie überquert hätte.
Dass der im Sommer von Arminia Bielefeld zum SC Freiburg gewechselte Ritsu Doan und der für den Zweitligisten Fortuna Düsseldorf spielende Tanaka („Jeder spricht von einem Wunder, aber das sehe ich nicht so“) mit ihren Toren Deutschland schockten, passte: Das Stahlbad Bundesliga hat einige aus dem Ensemble erst so wehrhaft gemacht, erklärte der für den FC Schalke 04 nicht immer so verlässlich verteidigende Kapitän Maya Yoshida dem internationalen Reporterpulk: „Für euch ist das eine Überraschung? Für mich nicht!“
Die Gesichter der „Samurai Blue“strahlten gefühlt die ganze Nacht so bunt wie der Aspire Tower nebenan. Die Jubelszenen bei einer ausgedehnten Ehrenrunde wie nach einem gewonnenen WM-Finale bewegten auch Staatspräsident Fumio Kishida, der dem Team bescheinigte, „im größten Spiel ein tolles Ergebnis“erzielt zu haben. Waren die Olympischen Spiele 2021 in Tokio wegen der Corona-Pandemie eine weitgehend freudlose Veranstaltung, zaubert nun diese ferne Fußball-WM vielen Fans in der japanischen Hauptstadt ein Lächeln auf die Lippen. Die nach Katar geflogene Anhängerschaft kam beim Rückweg über die vielen Rolltreppen ohne lautes Triumphgeheul aus, mit dem die Südamerikaner ihre Siege feiern. Die japanischen Zuschauer hatten schließlich gesehen, dass Spanien zwar nicht verlieren wollte, aber auch nicht alles getan hatte, um zu gewinnen.
Nationaltrainer Luis Enrique sandte mit dem Tausch der halben Stammelf für den Favoriten fatale Signale aus. Heraus kam ein fahriger, selten zielgerichteter Auftritt, der gegen vor Selbstvertrauen strotzende Marokkaner bitter bestraft werden könnte. Enrique behalf sich dann auch mit der Floskel, dass Fußball ein „unerklärlicher Sport“sei.
So fielen dem 52-Jährigen wohl auch keine vernünftigen Erläuterungen für die „zehn Minuten Panik“nach der Pause ein, als „Furia Roja“mit dem Feuer spielte. Dass zwischenzeitlich auch sein Ensemble für wenige Minuten mal ausgeschieden war, wollte ihr Coach angeblich gar nicht gewusst haben. „Wie? Wir waren draußen? Ich wusste es nicht, ich war aufs Spiel konzentriert. Ich hätte sonst einen Herzinfarkt bekommen.“