Die Moral ist rund
One Love – alles gut? Damit der Fußball endlich die Welt heilen kann: Eine Gegenbewerbung für das Amt des Fifa-Präsidenten. Am besten aus Deutschland. Denn nirgends scheinen Ballsport und Gewissen zugleich so zu Hause.
Womöglich steckt die Lösung für das Dilemma der Welt und des Fußballs, das sich aktuell an der Weltmeisterschaft in Katar und damit im Herzen der Fernseh-LiveWirklichkeit zeigt, im bis heute größten Spiel aller Zeiten. Es fand vor 50 Jahren statt. Und es hätte keinen besseren Ort dafür geben können als jenen, der kurz darauf erstmals WM-Hort wurde, später wieder, als „Die Welt zu Gast bei Freunden“war, und inzwischen auch noch mit einer Arena aufwarten kann, die diversitätsfreudigst in Regenbogenfarben zu erstrahlen vermag: München. Die Lösung also könnte aus Deutschland kommen. Aber zunächst muss man ja das Problem verstehen. Also:
Liebe Freundinnen und Freunde des Fußballs, werte Verächterinnen und Verächter seiner aktuellen Ausprägung, es geht um viel. Ja, um alles. Um nicht weniger nämlich als die Widerlegung einer doch eigentlich zeitlos scheinenden Wahrheit, in Worte gegossen vom Rasenball-Philosophen Adi Preißler in den Fuffzigern. „Grau is’ im Leben alle Theorie, aber entscheidend is’ auf ’m Platz“– vulgo: „Die Wahrheit is auf ’m Platz.“Is’ sie nämlich nicht. Wenn die Katar-WM etwas zeigt, dann doch das. Der längst nicht mehr lederne Ball mag noch in der aktuellen High-Tech-Variante rund sein und ins Eckige gezirkelt sein – aber mit dem ganzen Rest ist es eben kompliziert. Die Theorie aber ist dafür nicht mehr grau, sondern schwarz und weiß.
Liebe Freundinnen und Freunde des Fußballs, werte Verächterinnen und Verächter seiner aktuellen Ausprägung, Sie wissen schon: die Milliarden – und die Moral. Wie soll daraus je wieder eine runde Sache werden? Wer sich als Gegenkandidat bei der fälligen Wahl des Fifa-Chefs im kommenden Frühling bewirbt gegen den infamen Infanten, der regiert, scheint darauf eine Antwort finden zu müssen meint. Quasi: Ich habe einen Traum! Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werden. Die unebenen Plätze werden flach und die gewundenen Plätze gerade…
„One Love“: Als hätte der Fußball heute nötig, was Martin Luther King damals der Welt verhieß. 1963, als er das tat, war übrigens gerade Brasilien Fußballweltmeister, gekrönt in einem Turnier, das samt Attacken und Anarchie bis heute als das härteste, unfairste und hässlichste aller Zeiten gelten kann. Aber egal. Irgendwie galt ja noch das Preißler’sche Diktum.
Inzwischen aber is’ die Wahrheit und der Anspruch darauf eben vor allem auch neben dem Platz, auf den Presse- und Ehrentribünen, wo Armbinden mit Botschaften
zur Schau getragen werden, die auf dem Platz gerade nicht in Erscheinung treten dürfen. Damit ist auch der Fußball endgültig in der medialen Moderne angekommen, in der nichts mehr als das erscheint, was es ist – sondern vor allem sich in Inszenierung und behaupteter Bedeutung erzeugt. Und ist dadurch nur noch größer geworden. Im hochkapitalisierten Weltfußball-Event samt dem Gewese um ihn herum bildet sich einerseits die herrschende Weltunordnung besser ab als je zuvor – und zugleich wird in den moralischen Forderungen, die sich an ihn richten, das umso verzweifeltere Bedürfnis nach klarer Ordnung offenkundig.
Es ist die größte Bühne der beliebtesten Sportart, die doch im Grund ein einfaches Spiel ist: Da muss sich doch in Schwarz und Weiß zeigen, was gut und böse ist, da muss die Welt doch moderierbar sein wie ein solches Spiel, zur Detail-Entscheidung höchstens noch ein Video Assistant Referee vonnöten! Aber der Fußball ist längst wie andere Global Player von Apple bis zur katholischen Kirche. Vielleicht tönt noch Weltverbesserungspathos von der Spitze – und bestenfalls zeigt das auf die Marke, so es denn glaubwürdig ist in Inszenierung und behaupteter Bedeutung. Also ließe sich doch sagen: Wer tritt derzeit weltweit mit größerem moralischen Impetus in der Welt auf als Deutschland? Wo wird sonst noch so sehr durch Schwarz–Weiß-Kommentatoren die Moral-Kompetenz kritisch befragt und trainiert? Woher sollte also der passendere neue Fifa-Chef kommen, oder noch besser: die Chefin?
Liebe Freundinnen und Freunde des Fußballs, werte Verächterinnen und Verächter seiner aktuellen Ausprägung, verehrte Träumende aller Geschlechter von einer besseren, einer letztlich besten aller möglichen Welten, ein Programm findet sich dazu schnell: Nicht nur Bewerbungen von Austragungsorten werden künftig neben der zum gemeinnützigen Verein verwandelten Fifa von Amnesty, Transparency International und Human Rights Watch beurteilt – auch die teilnehmenden Mannschaften bekommen je nach Moral-Fortschritt im Land seit der letzten WM einen Fairness-Koeffizienten, mit dem die erzielten Tore zum endgültigen Ergebnis multipliziert werden (eventuell zu überlegen: eine Zusammenlegung mit der FrauenWM und ein Querverrechnen der Resultate zu einem Ergebnis). Die teils martialischen Nationalhymnen werden abgeschafft, dafür wird „One“von U2 oder „Heal The World“von Michael Jackson in die Welthilfssprache Volapük übersetzt gemeinsam gesungen … Nicht, dass das alles je als Wahrheit tatsächlich zurück auf ’n Platz käme (dazu müsste wohl eine eigene FifaWM-Insel irgendwo gebaut werden, ähnlich dem Reichen-Projekt ProSpera oder dem Vatikan, aber halt inzestuös problematisch). Es ginge ja bloß um die erweiterte Wahrheit in der Ziel-Inszenierung und dann der realpolitischen ohnehin zeitgemäßen Mängel-Kommunikation. Oder, liebe Freundinnen und Freunde…: Genügt die Wahl des relativ offenbar geringeren Übels zuvor, einer gekauften WM in Deutschland, einer in Russland?
Im größten Spiel aller Zeiten standen sich 1972 Deutschland und Griechenland im Grünwalder Stadion gegenüber. In Szene gesetzt von den britischen Satiriker von Monty Python’s. Ein Spiel der Philosophen, bei den Deutschen samt Kant und Hegel und Heidegger, bei den Griechen samt Platon und Aristoteles und Epikur. In dem bis zur 90. Minute nichts passiert (außer einer Gelben Karte für Nietzsche), der Ball auf dem Anstoßpunkt liegen bleibt, weil alle mit Debattieren und Nachdenken beschäftigt sind. Um wohl die tatsächliche Komplexität von Spiel und Wahrheit und Moral zu erfassen? Wenn das je auf ’n Platz käme, die Welt innehielte, sich besönne, wäre wohl einzig möglich, was hülfe: ein Neuanfang. Bloß nutzte wohl, wie im Sketch dann Sokrates in der 90. Minute, sicher irgendeiner, die Gesetze des Milliardenspiels erkennend („Heureka!“), zum Ball und netzte, rund in eckig, das nächste Geschäft ein.