In der Nationalelf muss ein Neuanfang her
Leitartikel Es war eine triste WM aus deutscher Sicht. Vorrunden-Aus, keine Stimmung zu Hause. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie sich die Wende schaffen lässt.
Vielleicht ist dieses Lagerfeuer auch einfach erloschen. Möglicherweise kochen zu viele ihr eigenes Süppchen über der eigenen Flamme. Die immer weiter voranschreitende Individualisierung und das Vertreten von Partikularinteressen muss sich ja auch irgendwie auswirken. Kann sein, dass es aus der Zeit gefallen ist, wenn man erwartet, dass sich ein ganzes Land vor den Bildschirmen versammelt, um schlandmäßig einer Gruppe Jungmillionäre die Daumen zu drücken. Gemeinschaftsgefühle lassen sich auch immer an anderer Stelle finden. In der Kritik an den CoronaMaßnahmen. Oder der Gaslieferungen. Im Boykott einer Weltmeisterschaft.
So findet jede und jeder eine Gruppe, in der man sich aufgehoben fühlen kann. Allerdings: Das war früher nicht anders. Auch in der Vergangenheit durchschnitten politische und soziale Diskurse die Gesellschaft. Vor dem Fernseher aber kamen sie alle zusammen. Brokdorf, Nato-Doppelbeschluss, dafür, dagegen, Kriegsgeneration und Studenten: Spielten der Kaiser, Lothar, Schweini und Poldi um nationale Würden, schnellten die Einschaltquoten nach oben.
Taten sie diesmal ja auch. Nur blieben sie unter der 20-MillionenMarke, wo früher 30 Millionen zusahen. Naheliegende Begründung: Entfremdung. Die Kommerzialisierung treibt Sportler und Fans auseinander. Mega-Ablösesummen, steigende Pay-TV-Kosten und immer neuer Marketing-Blödsinn verleiden die Freude am Sportschauen. Das Blöde daran ist: Es stimmt nicht. Die Anhängerinnen
und Anhänger strömen weiterhin in die Bundesliga-Stadien. Am Fernseher Fußball zu verfolgen, wird immer teurer, weil es sich um ein Premium-Produkt handelt. Weil sich die Sender eine Refinanzierbarkeit durch Werbekunden versprechen und eine Stärkung der eigenen Marke.
Fußball aber – und das ist das Wunderbare am Sport – ist mehr als Zahlen und Fakten. Den Großteil seiner Faszination bezieht er aus Emotionen. Freud, Leid, Ärger, Jubel. Davon hat auch die Nationalmannschaft über Jahrzehnte profitiert. In Katar nicht mehr. Weil dieses Turnier in einem Staat stattfindet, in dem es niemals hätte stattfinden dürfen. Aber eben auch, weil diese Mannschaft nicht mehr in der Lage ist, an die guten alten Zeiten anzuschließen. Zu viel Markenbildung, zu wenig Emotionen. Vor allem aber: zu wenig Erfolg.
Oliver Bierhoff hat sich um die Markenbildung gekümmert, er ist das Gesicht des Misserfolgs. Unfair, weil er ja keinen Ball in Katar neben das Tor gesetzt hat. Bei wiederholten Enttäuschungen aber braucht es einen Neuanfang. Das ist gleichsam fürs Binnenklima wie für die Außenwirkung notwendig. In zwei Jahren steht eine Europameisterschaft in Deutschland bevor. Es ist eine ähnliche Ausgangssituation wie 2004, als die Nationalmannschaft in der Vorrunde der EM ausschied und zwei Jahre später die WM im eigenen Land anstand. Stimmung: Tiefpunkt. Oder tieferer Tiefpunkt, wie Rudi Völler einst sagte.
Bierhoff und Jürgen Klinsmann drehten daraufhin den Verband einmal auf links. Das brachte Kritik ein und führte ins Sommermärchen. Auch, weil die gerade noch für immer und ewig enttäuschten Fans schnell wieder unterstützten. Weil sie sich gerne von den Emotionen gefangen nehmen lassen. Weil es eben doch schöner ist, gemeinsam rund ums Feuer zu sitzen als alleine vor der Sparflamme. Das ist auch jetzt wieder möglich – dafür aber braucht es einen personellen Neuanfang.
Bierhoff und Klinsmann drehten einst alles auf links