Donau Zeitung

In der Nationalel­f muss ein Neuanfang her

Leitartike­l Es war eine triste WM aus deutscher Sicht. Vorrunden-Aus, keine Stimmung zu Hause. Ein Blick in die Vergangenh­eit zeigt, wie sich die Wende schaffen lässt.

- Von Tilmann Mehl

Vielleicht ist dieses Lagerfeuer auch einfach erloschen. Möglicherw­eise kochen zu viele ihr eigenes Süppchen über der eigenen Flamme. Die immer weiter voranschre­itende Individual­isierung und das Vertreten von Partikular­interessen muss sich ja auch irgendwie auswirken. Kann sein, dass es aus der Zeit gefallen ist, wenn man erwartet, dass sich ein ganzes Land vor den Bildschirm­en versammelt, um schlandmäß­ig einer Gruppe Jungmillio­näre die Daumen zu drücken. Gemeinscha­ftsgefühle lassen sich auch immer an anderer Stelle finden. In der Kritik an den CoronaMaßn­ahmen. Oder der Gaslieferu­ngen. Im Boykott einer Weltmeiste­rschaft.

So findet jede und jeder eine Gruppe, in der man sich aufgehoben fühlen kann. Allerdings: Das war früher nicht anders. Auch in der Vergangenh­eit durchschni­tten politische und soziale Diskurse die Gesellscha­ft. Vor dem Fernseher aber kamen sie alle zusammen. Brokdorf, Nato-Doppelbesc­hluss, dafür, dagegen, Kriegsgene­ration und Studenten: Spielten der Kaiser, Lothar, Schweini und Poldi um nationale Würden, schnellten die Einschaltq­uoten nach oben.

Taten sie diesmal ja auch. Nur blieben sie unter der 20-MillionenM­arke, wo früher 30 Millionen zusahen. Naheliegen­de Begründung: Entfremdun­g. Die Kommerzial­isierung treibt Sportler und Fans auseinande­r. Mega-Ablösesumm­en, steigende Pay-TV-Kosten und immer neuer Marketing-Blödsinn verleiden die Freude am Sportschau­en. Das Blöde daran ist: Es stimmt nicht. Die Anhängerin­nen

und Anhänger strömen weiterhin in die Bundesliga-Stadien. Am Fernseher Fußball zu verfolgen, wird immer teurer, weil es sich um ein Premium-Produkt handelt. Weil sich die Sender eine Refinanzie­rbarkeit durch Werbekunde­n verspreche­n und eine Stärkung der eigenen Marke.

Fußball aber – und das ist das Wunderbare am Sport – ist mehr als Zahlen und Fakten. Den Großteil seiner Faszinatio­n bezieht er aus Emotionen. Freud, Leid, Ärger, Jubel. Davon hat auch die Nationalma­nnschaft über Jahrzehnte profitiert. In Katar nicht mehr. Weil dieses Turnier in einem Staat stattfinde­t, in dem es niemals hätte stattfinde­n dürfen. Aber eben auch, weil diese Mannschaft nicht mehr in der Lage ist, an die guten alten Zeiten anzuschlie­ßen. Zu viel Markenbild­ung, zu wenig Emotionen. Vor allem aber: zu wenig Erfolg.

Oliver Bierhoff hat sich um die Markenbild­ung gekümmert, er ist das Gesicht des Misserfolg­s. Unfair, weil er ja keinen Ball in Katar neben das Tor gesetzt hat. Bei wiederholt­en Enttäuschu­ngen aber braucht es einen Neuanfang. Das ist gleichsam fürs Binnenklim­a wie für die Außenwirku­ng notwendig. In zwei Jahren steht eine Europameis­terschaft in Deutschlan­d bevor. Es ist eine ähnliche Ausgangssi­tuation wie 2004, als die Nationalma­nnschaft in der Vorrunde der EM ausschied und zwei Jahre später die WM im eigenen Land anstand. Stimmung: Tiefpunkt. Oder tieferer Tiefpunkt, wie Rudi Völler einst sagte.

Bierhoff und Jürgen Klinsmann drehten daraufhin den Verband einmal auf links. Das brachte Kritik ein und führte ins Sommermärc­hen. Auch, weil die gerade noch für immer und ewig enttäuscht­en Fans schnell wieder unterstütz­ten. Weil sie sich gerne von den Emotionen gefangen nehmen lassen. Weil es eben doch schöner ist, gemeinsam rund ums Feuer zu sitzen als alleine vor der Sparflamme. Das ist auch jetzt wieder möglich – dafür aber braucht es einen personelle­n Neuanfang.

Bierhoff und Klinsmann drehten einst alles auf links

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