Eugen Ruge: Metropol (108)
Stolpert, fällt, rennt. Zweige schlagen ihm ins Gesicht. Er steigt auf eine Mülltonne, überspringt eine Mauer. Ein stechender Schmerz im rechten Fußgelenk. Er hastet weiter, quer durch einen Hof, zwischen Häusern vorbei, durch ein Tor und steht plötzlich auf der Straße. Gegenüber eine Fabrik: Technische Papiere. Er ist auf dem Perewedenowski pereulok. Ein paar Nummern weiter muss das Gemeinschaftswohnheim sein.
Erst jetzt merkt Wassili Wassiljewitsch, wie er schwitzt. Sein Fußgelenk schmerzt. Der Orden hat einen kleinen Dreiangel in seine Uniform gerissen. Seine Knie sind feucht, die Hände schmutzig. Er nimmt ein bisschen Schnee auf, reibt die Handflächen ab, kühlt sein Gesicht. Einen Augenblick fragt er sich, ob er das Unternehmen abbrechen soll. Aber nein, kommt nicht in Frage. Nun ist er fast am Ziel.
Langsam humpelt er in Richtung der aufsteigenden Hausnummern. Dreht sich mehrmals um, ob die Bande um die Ecke biegt, was aber nicht der Fall ist. Haben die ihn überhaupt verfolgt? Warum sollten sie sich mit einem Mann anlegen, von dem sie annehmen müssen, dass er bewaffnet ist? Was für eine Blamage. Und wie soll er Annuschka erklären, dass ihm sein Orden abhandengekommen ist?
Da ist das Gemeinschaftswohnheim. Wassili Wassiljewitsch geht langsam vorbei, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um die Lage zu erkunden: ein Pförtner, das hätte er sich denken können. Wassili Wassiljewitsch braucht noch ein paar Schritte, bis er sich der Begegnung gewachsen fühlt. Dann macht er kehrt und schreitet langsam, sein Hinken verbergend, auf das Gebäude zu. Der Pförtner erweist sich als Frau, so ein typischer diensthabender Besen.
Wassili Wassiljewitsch schlägt eine strenge, dienstliche Tonart an: Bürgerin, gibt es hier einen Aufzug?
Die Bürgerin zeigt sich durch seinen Auftritt verunsichert: Genosse Offizier, eigentlich dürfen Sie hier nicht so ohne weiteres …
Ich frage Sie, ob es hier einen Aufzug gibt!
Ja, aber er funktioniert nicht. Wassili Wassiljewitsch steigt die Treppen hoch. Zimmer 401, er vermutet es in der vierten Etage, aber es gibt nur drei Etagen. Er betritt den langen Flur. Ein Neonlicht
flackert. Überall steht Gerümpel herum, eine alte Nähmaschine, ein kaputter Stuhl, wie auf dem Schrottplatz.
Zimmer 401, sein Herz bummert, er versucht, ruhig zu atmen. Klopft an. Die Polin öffnet im gestreiften Männerbademantel.
Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.
Klingt sie enttäuscht oder erleichtert? Wassili Wassiljewitsch weiß nicht mehr, was er sich vorgestellt hat, als die Frau ihm erzählte, sie arbeite seit der Verhaftung ihres Mannes in der Papierfabrik und habe ein Zimmer im nahe gelegenen Wohnheim. Das hier ist kein Zimmer, sondern eine Kammer, höchstens zwei mal drei Meter groß. Hässliche, abgestoßene Tapeten. An der Stirnseite, unter dem Fenster, ein schiefes Tischchen. Trotz der Tageszeit brennt die nackte Glühbirne an der Decke. Das alles nimmt Wassili Wassiljewitsch nur am Rande wahr, als schmuddeliges, trostloses Ganzes, das ihn kränkt: Hat er das verdient? Erstaunlicherweise stehen in dem winzigen Raum zwei Betten, jeweils links und rechts an der Wand. Es stellt sich heraus, dass Wadwiga nicht allein hier wohnt, sondern eine Zimmergenossin hat, die ausgegangen ist. Sie wird in etwa eineinhalb Stunden wiederkommen, teilt die Frau mit, bis dahin müssen sie fertig sein.
Das Wort stört Wassili Wassiljewitsch sogleich, obwohl er nicht weiß, was er dagegen einwenden soll. Eineinhalb Stunden sind genug Zeit, er beschließt, sich davon nicht verrückt machen zu lassen. Er legt seinen Mantel ab, wirft ihn auf das freie Bett links. Die Frau zieht die schäbigen Gardinen zu, knipst eine Nachttischlampe an und macht das obere Licht aus. Setzt sich aufs rechte Bett.
Wollen Sie gleich… oder möchten Sie noch einen Wodka?
Wassili Wassiljewitsch entscheidet sich für den Wodka, um in Stimmung zu kommen. Er setzt sich und schaut ihr beim
Eingießen zu. Auch sie wirkt in diesem Abstellraum wie abgestellt. Wie ein ausrangierter, beschädigter Mensch. In seinem Büro war sie ihm schön erschienen. Nicht so schön wie die schöne Deutsche, aber doch irgendwie charaktervoll in ihrer Trauer. Ihre Augen waren voller Glanz, ihr Gesicht hatte die bleiche Würde einer Statue. Aber hier ist sie einfach nur weiß, ihre Haut scheint vor Erschöpfung schlaff. Der Bademantel, in dem sie verschwindet, gehört vermutlich ihrem verhafteten Mann. An den Füßen trägt sie glitzernde Hausschuhe mit rosa Puscheln, Relikt aus einem vormaligen Leben.
Sie trinken.
Sie haben ein Loch in der Jacke, sagt die Frau.
Wassili Wassiljewitsch überlegt, ob er etwas von einem Überfall sagt, entscheidet sich aber anders.
Es sei ihm beim Aussteigen aus dem Taxi passiert: Ich bin gestürzt.