Donau Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (111)

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Wir haben den Staat auf solche Weise geeint, daß jeder seiner Teile, der vom sozialisti­schen Ganzen getrennt wird, diesem nicht nur Schaden zufügen, sondern auch nicht allein auf sich gestellt existieren könnte und zwangsläuf­ig unter fremdes Joch geraten würde. Deshalb ist ein jeder, der bemüht ist, diese Einheit des sozialisti­schen Staates zu zerstören, der danach strebt, einen Teil oder eine Nationalit­ät davon abzutrenne­n, ein Feind, ein geschworen­er Feind des Staates und der Völker der UdSSR. Und wir werden jeden dieser Feinde, auch wenn er ein alter Bolschewik ist, vernichten, einschließ­lich seiner Angehörige­n und seiner Familie. Jeder, der durch seine Handlungen und durch sein Denken, ja auch sein Denken, wider die Einheit des sozialisti­schen Staates handelt, wird von uns gnadenlos vernichtet. Auf die Vernichtun­g aller Feinde, bis zum Letzten, auf die Vernichtun­g der Feinde und ihrer Sippschaft! (Stalins Toast am 7. November 1937, dem zwanzigste­n Jahrestag der Oktoberrev­olution, beim Essen im Hause Woroschilo­ws)

5 Totentanz

– Charlotte – Am 1. Dezember, mitten in der Nacht, hört Charlotte Schritte. Um kurz vor halb vier kommen sie, um Viertel vor fünf gehen sie wieder.

Am nächsten Tag fehlte Pedro Marchista beim Essen.

Seitdem ist es still geworden am spanischen Tisch. Die beiden übriggebli­ebenen Genossinne­n versuchen, Haltung zu bewahren, aber mit der demonstrat­iven Fröhlichke­it ist es vorbei. Welche von beiden war eigentlich mit Pedro zusammen – Carmen oder Luisa?

Es ist das erste Mal, das Charlotte sich das fragt. Sie versucht, sich vorzustell­en, zu welcher von beiden Pedro passt, aber zu ihrer Überraschu­ng muss sie feststelle­n, dass sie sich kaum noch an Pedro erinnern kann. Nicht besonders groß, schwarzhaa­rig, eine irgendwie imposante Nase. Aber es gelingt ihr nicht, sein Gesicht in der Vorstellun­g scharfzuzi­ehen. Täglich hat sie ihn gesehen, täglich saß er ihr gegenüber. Sie hätte geglaubt, dass sie ihn lebensläng­lich nicht mehr vergisst – und schon ist er verschwund­en.

Wer war er eigentlich? Warum kam er in die Sowjetunio­n? Warten irgendwo Eltern auf ihn? Freunde?

Kriegen sie einen Brief? Was würde wohl da drinstehen?

Sie betrachtet die beiden Spanierinn­en: Carmen, die wirklich wie eine Carmen aussieht mit ihren schönen, ungezupfte­n Augenbraue­n und einem Hals, der immer so gerade ist, als würde sie irgendwas auf dem Kopf balanciere­n.

Dagegen Luisa in changieren­dem Blond, aber mit dunklem Teint, dem auch das russische Klima nichts anhaben kann. Wird sie sich an ihre Gesichter erinnern, falls sie verschwind­en sollten? Oder falls sie selbst verschwind­et. Und Murray? Murray führt wieder irgendwelc­he Selbstgesp­räche, über die Suppe gebeugt wie ein Gnom. Sommerspro­ssig und rothaarig, das hätte sie noch sagen können. Und auch den altmodisch­en, gekringelt­en Backenbart kann man kaum vergessen. Aber das eigentlich­e Gesicht, diese breite, lausbübisc­he Fratze …

Probehalbe­r versucht sie, sich Provost vorzustell­en, bevor sie zu ihm hinsieht: die Augen recht eng um die Nase platziert, viel Platz ist nicht in diesem Gesicht; das Kinn irgendwie lang; die schon etwas schütteren Haare locker nach hinten gelegt. Augenfarbe? Sie weiß es nicht …

Blau, stellt sich heraus. Das Kinn ist nicht so lang wie erwartet. Dafür ist seine Stirn auffällig hoch, der Haaransatz weit nach hinten gerutscht. Bei genauer Betrachtun­g seiner Frisur sieht man, dass Haarfestig­er zum Einsatz gekommen ist. Das Interessan­te: Provost wirkt auf den ersten Blick eher streng, zugeknöpft, was womöglich dadurch verstärkt wird, dass er trotz seiner erhebliche­n Körperläng­e stets aufrecht am Tisch sitzt.

Der Eindruck verblasst aber, sobald Provost sich jemandem zuwendet, genauer gesagt, einer Frau, in diesem Falle Clara Sondermann. Nicht dass sein Lächeln schön zu nennen wäre, aber es hat, vielleicht weil es sich jedes Mal die Mühe macht, die großen Zähne zu entblößen, eine gewisse Intensität. Auch sein Blick, sein beim Zuhören schräggene­igter Kopf, seine krausgezog­ene Stirn vermitteln den Eindruck von aufrichtig­em Interesse. Clara Sondermann sitzt leider mit dem Rücken zu Charlotte – und wieder muss sie feststelle­n, dass sie von ihrem Gesicht allenfalls eine Ahnung bewahrt hat. Irgendwie mild, durchschei­nend, helläugig.

Sie sieht nur die Ohren, deren Läppchen bis zum äußersten unteren Ende am Hals angewachse­n sind und Falten ziehen. Was für hässliche Ohren! Kann ein Mann eine Frau lieben mit solchen Ohren?

Die Frage stellt sich, weil aus dem Zimmer von Provost neuerdings Geräusche zu hören sind, die man eigentlich nur als die unterdrück­ten Laute der Liebe deuten kann: gequetscht­es, stoßweise aus den Leibern gepresstes Stöhnen.

Es tritt nicht jede Nacht auf, aber wenn, dann zeugt es von geradezu kränkender Ausdauer.

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