„Eigentlich ist es ein Heldinnenepos“
Ferdinand Schmalz hat die alte Legende von den Nibelungen neu interpretiert, zu sehen im Münchner Volkstheater. Der Dramatiker verrät, warum er für „Hildensaga“an einer Stelle den Stoff umgeschrieben hat.
Ihre „Hildensaga“ist als Auftragswerk für die Nibelungenfestspiele in Worms entstanden und wurde dort im Sommer uraufgeführt. Wann sind Sie mit dem Nibelungen-Stoff zum ersten Mal in Kontakt gekommen und wie haben Sie sich ihm für Ihr Stück genähert?
Ferdinand Schmalz: Das Nibelungenlied ist mir in der Schule begegnet und in Sonntagnachmittagsfilmen. Als ich angefragt wurde, eine neue Fassung zu schreiben, habe ich mich natürlich noch mal damit auseinandergesetzt – auch mit der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte – und das Original-Nibelungenlied viel intensiver gelesen als zuvor. Das war spannend, denn mir wurde klar, dass das, was man so aus den Sonntagnachmittagsfilmen kennt – die Legende –, nur peripher mit dem Nibelungenlied im Original zu tun hat, dass Erzählstränge, die ich für zentral in der Handlung gehalten habe, zum Beispiel die Drachentöter-Szene am Anfang –das ist ja im Film ein Riesenmoment–,die wird im Nibelungenlied nur in einer Strophe von Hagen nacherzählt und dann kommen fünfundzwanzig Strophen, in denen die Kleider der Burgunder, die sie beim Auszug aus Worms getragen haben, beschrieben werden–wie die geschneidert wurden, womit die bestickt waren, welche Materialien dafür verwendet wurden und all so was. Das fand ich interessant, denn man glaubt, man kennt den Text, aber eigentlich ist er uns größtenteils nicht bekannt und da Tiefenbohrungen zu betreiben, das hat Spaß gemacht.
Sie haben sich auch mit Richard Wagners „Ring“und den nordischen Göttersagen beschäftigt?
Schmalz: Ich habe sogar den halben „Ring“in Wien angeschaut, das musste reichen (lacht). Aber klar, die nordische Götterwelt, die Edda-Sagen habe ich auch noch mal gelesen. Richtig interessant ist diese Götterwelt für mich geworden, als ich über die Nornen gestolpert bin.
Die Nornen sind drei weibliche Schicksalswesen, die in der Edda und auch in Wagners „Götterdämmerung“auftauchen. Bei Ihnen treten sie als eine Art mütterlicher
Chor auf, der die Schicksalsfäden spinnt. Es geht überhaupt in ihrem Stück sehr viel ums Weben, Spinnen, um Fäden und Verknotungen.
Schmalz: Das hat wiederum mit diesen Kleider- und Schneiderstrophen im Nibelungenlied zu tun, die ich so spannend fand. Die Nornen sind eine Erzählinstanz, die sich mit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit auseinandersetzt, sie spinnen quasi den Erzählfaden der Geschichte, verwirren den Faden und dröseln ihn wieder auf, das hat etwas sehr Stoffliches und Konkretes. Das fand ich spannend, diese große Schicksalserzählung zu materialisieren und auf etwas konkretes Stoffliches runterzubrechen. Ich glaube, das hängt mit dieser mündlichen Erzähltradition zusammen, aus der das Nibelungenlied und auch die Edda entstanden sind, denn während diese Geschichten erzählt wurden, wurden ja teilweise Handwerkstätigkeiten ausgeübt, es wurde gesponnen, gewoben und geschneidert und diese
Vorgänge haben dann, denke ich, auch auf irgendeine Weise in die Erzählung reingefunden.
Sie erzählen aus der Sicht der Frauen, der „Hilden“Brühnhild und Kriemhild. Brünhild, die isländische Königin, die durch den Einsatz des Drachentöters Siegfried zur Frau Gunthers wird, und Kriemhild, Gunthers Schwester, die, nachdem Siegfried Brünhild für Gunther erobert hat, Siegfrieds Frau wird. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Schmalz: Ich glaube, das, was das Nibelungenlied von anderen mittelalterlichen Epen unterscheidet, ist, dass es eigentlich ein Heldinnenepos ist. Und das ist auch im Original grundlegend. Dieser männlich dominierte Erzählstrang kommt aus der imperialistischen, nationalen Lesart, die aus dem Nibelungenlied im 19. Jahrhundert die deutsche Ilias gemacht hat. Dieser mythische Stoff sollte ja den deutschen Nationalstaat begründen. Aber es gibt kein anderes
mir bekanntes mittelalterliches Epos, in dem die Frauen so handlungsentscheidend sind. Deshalb dachte ich, wenn ich mich dem Stoff ernsthaft widmen will, dann muss ich aus der Perspektive der Frauen erzählen. In Interviews bin ich oft gefragt worden: „Was machen Sie denn mit dem Nibelungenstoff? Sie bürsten den auf feministisch!“Und dann habe ich geantwortet: „Wie kommen Sie darauf? Das steht doch alles schon im Original drin.“
Etwas steht nicht im Original, und das ist handlungsentscheidend in Ihrem Stück, ein neuer Schicksalsfaden, der gesponnen wird. Statt zu Feindinnen werden die beiden Königinnen Brünhild und Kriemhild zu Komplizinnen. Sie verschwestern sich gegen die Männer, die ihnen beiden übel mitgespielt haben, und die Geschichte nimmt einen anderen Verlauf. Wie kam es dazu? Schmalz: Der berühmte Königinnenstreit, darum, wer als Erste von den beiden den Dom betreten darf, ist ein neuralgischer Punkt für mich bei der Lektüre gewesen, weil es mich geärgert hat, dass die sich wegen einer aus unserer Sicht lächerlichen Kleinigkeit in die Haare kriegen. Ich habe mich gefragt: Was wäre, wenn sie sich anders entscheiden? Was wäre, wenn sie sich fragen, ob sie nicht selber draufzahlen, wenn sie sich in die Haare kriegen. Daraus ist die Idee entstanden, den Spieß umzudrehen und die beiden gemeinsam gegen die Männerbünde am Wormser Hof vorgehen zu lassen.
Wie viel Gegenwart steckt in den Nibelungen?
Schmalz: Ich habe schon Parallelen entdeckt, denn das Mittelalter war ja eine Zeit, in der es wahnsinnig überartifizielle höfische Gepflogenheiten, Anstandsregeln und einen Verhaltenskodex gegeben hat. Wie die höfische Minne auszusehen hat, wie man sich Frauen nähern soll usw., während die Lebensrealität eine komplett andere war. Das Mittelalter war unübersichtlich und voller Gewalt, auch an den Höfen, auch Gewalt gegen Frauen gab es natürlich, wie sie im Nibelungenlied geschildert wird. Das hat mich schon auch an unsere Gegenwart erinnert, wo wir einerseits sehr hohe Anstandsmoral-Regeln haben und andererseits die Realität an vielen Ecken anders ausschaut. Selbst in der eigenen Blase sieht man, dass es noch immer schrecklich zugeht. Dann geht es im Stück auch um Macht, Machtmissbrauch und Verrat und eine Spirale aus Rache, Gewalt und Gegengewalt, die sehenden Auges ausgelöst und hingenommen wird – und diese Themen sind leider auch immer noch hochaktuell.