Wer dauerhaft Leistung bringen will, kann nicht dauernd arbeiten
Mittagspause am Schreibtisch, E-Mails nach Feierabend: Millionen Beschäftigte machen regelmäßig unbezahlte Überstunden. Warum nur sprechen alle so selten darüber?
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, zwei Menschen schließen einen Vertrag. Der eine liefert, der andere zahlt. Irgendwann beginnt eine Person, mehr zu machen als vereinbart – vielleicht, weil sie will, vielleicht, weil sie muss. Die andere vergütet weiter, was festgeschrieben wurde. Ziemlich unfair. Oder nicht?
Dieses Beispiel ist stark vereinfacht. Und doch läuft es so oder so ähnlich jeden Tag in deutschen Betrieben ab. 4,5 Millionen Beschäftigte haben 2021 regelmäßig Überstunden geleistet. Ein Drittel davon arbeitete pro Woche über 15 Stunden zu viel – also fast zwei Arbeitstage, die meisten davon unbezahlt. Der Aufschrei bleibt jedoch aus. Deutschland hat zwar ein Überstunden-Problem. Aber kaum jemand spricht darüber.
Dabei stand die Arbeitszeit lange nicht mehr so im Fokus wie in den vergangenen Jahren. Die einen fordern mehr Work-Life-Balance. Gerade jüngere Menschen wollen nicht zehn Stunden oder mehr am Schreibtisch sitzen und am Wochenende noch aufarbeiten müssen, was unter der Woche liegen blieb. Die anderen würden die Arbeitszeit gern erhöhen: Die Industrie setzt sich für eine 42-StundenWoche ein. Bayerns Arbeitsministerin Ulrike Scharf steht irgendwo dazwischen. Die Politikerin will Beschäftigten erlauben, auch mehr als zehn Stunden am Tag zu arbeiten, vorausgesetzt, die Überstunden werden abgebaut.
Scharfs Vorschlag ist nicht so falsch, wie er in den Ohren mancher vielleicht klingt. Arbeitszeiten flexibler zu gestalten, sie an das Leben anzupassen – das ist erst einmal richtig. Doch Flexibilität kann nur funktionieren, wenn man sich vorher ehrlich macht. Denn sonst arbeitet man zwar flexibel, aber trotzdem zu viel.
Aktuell ist es so: Viele Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen belügen sich, wenn es um Mehrarbeit geht. Die Unternehmen, weil sie Überstunden einkalkulieren, um Ziele zu erreichen. Unterstützt werden sie dabei von einer Regierung, die seit mehr als drei Jahren die Einführung der Arbeitszeiterfassung blockiert. Aber auch die Beschäftigten müssen ehrlicher zu sich sein. Viele von ihnen hängen freiwillig Arbeitszeit dran. Um eigene Schuldgefühle zu ersticken oder schlicht und einfach, weil sie gern arbeiten.
All das führt dazu, dass Überstunden oft Teil der Unternehmenskultur sind, die Messlatte verschiebt sich damit nach oben. Verlierer sind jene, die so arbeiten wollen, wie es ihr Vertrag vorgibt.
Wer aber dauerhaft Leistung bringen will, kann nicht dauerhaft arbeiten. Die Zeit, die in Überstunden fließt, fehlt anderswo, in der Familie, bei der Pflege von Angehörigen, im Ehrenamt, beim Sport oder einfach in der Freizeit. Dazu kommt: Unter zu viel Arbeit leidet der Schlaf, der Rücken, im schlimmsten Fall das Herz. Der Körper braucht Erholung, der Geist auch. Das sicherzustellen, ist zuallererst Aufgabe der Regierung, die dafür sorgen muss, dass die Arbeitszeiterfassung sauber eingeführt wird. Es ist aber auch die Aufgabe der Arbeitgeber, das Stichwort lautet Fürsorgepflicht. Dazu gehört, dass Unternehmen Arbeitszeit neu denken. Sie müssen sich dort, wo es geht, mehr auf die Bedürfnisse ihrer Angestellten einstellen, häufiger zuhören, wie Menschen arbeiten wollen, statt ein strenges Korsett vorzugeben, das für alle gelten soll.
Das kann übrigens auch ein Vorteil sein auf dem Arbeitsmarkt: Fachkräfte, die sich den Arbeitgeber aussuchen können, wählen am Ende vermutlich eher den, der fair mit ihnen umgeht.
In vielen Betrieben gehört es dazu, zu viel zu arbeiten