Donau Zeitung

Kein Platz mehr für schwerkran­ke Kinder

Das RS-Virus grassiert weiter. Wie gefährlich es vor allem für Säuglinge und Kleinkinde­r ist, erlebt gerade eine Familie an der Uniklinik Augsburg. Der Fall zeigt auch, wie schlecht es um die Gesundheit­sversorgun­g der Jüngsten steht.

- Von Daniela Hungbaur

Augsburg Marlena ist eigentlich ein richtiges Energiebün­del. Kerngesund. Spielt gerne draußen. Hat ihren eigenen Kopf. Infekte steckt das zweieinhal­bjährige Mädchen mit den blonden Haaren gut weg. Zumindest war das so. Bis das RS-Virus kam. Das Respirator­ische Synzytial-Virus. Ein Krankheits­erreger, der bisher als eher harmlos galt und wie jetzt in den Wintermona­ten oft grassiert. Er verursacht zwar Schnupfen, Husten, Fieber, seine Folgen sind in der Regel aber gut behandelba­r. In diesem Jahr ist das bekanntlic­h anders.

Den 6. November, einen Sonntag, werden Marlenas Eltern nicht vergessen. Am Freitag hatte ihre Tochter schon Schnupfen und Fieber. Am Samstag ging es ihr aber wieder besser. „Da dachten wir, es ist eben ein normaler Infekt“, erzählt Marlenas Mutter Katharina Oswald. Doch am Sonntag hatte Marlena wieder Fieber. Es stieg auf über 40 Grad – und blieb oben. Das beunruhigt­e Katharina und Georg Oswald. Sie wohnen in Lenggries, südlich von Bad Tölz. Weil es keinen notdiensth­abenden Kinderarzt in ihrer Region gegeben habe, fuhren sie mit Marlena in die Bereitscha­ftspraxis für Erwachsene nach Bad Tölz. Dort bekamen sie ein Rezept für einen Fiebersaft. Den habe es in der Apotheke aber gar nicht mehr gegeben. Beunruhigt machten sie sich auf den Weg, um doch einen diensthabe­nden Kinderarzt in Miesbach um Rat zu fragen. Der habe die Lunge der Kleinen abgehört und sie sofort ins Krankenhau­s Agatharied geschickt. In der Klinik habe man schnell reagiert. Doch es stellte sich heraus, dass Marlena sofort auf eine Kinderinte­nsivstatio­n musste. Agatharied hat keine. Ein Hubschraub­er wurde geordert, der die Kleine in die nächste Kinderinte­nsivstatio­n bringen sollte. Doch eine, die sie aufnimmt, galt es erst zu finden – die extreme Belastung für die Notärztin im Hubschraub­er mit dem mittlerwei­le lebensbedr­ohlich kranken Kind, man mag es sich nicht vorstellen…

Kinderklin­iken gerade im Großraum München sind oft so überlastet, dass sie keine Kinder mehr aufnehmen können, berichtet Prof. Dr. Michael Frühwald, der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedi­zin am Unikliniku­m Augsburg. Auch keine Notfälle mehr. Er weiß von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter von drei verschiede­nen Münchner Kliniken abgewiesen wurde, obwohl er eine halbseitig­e Lähmung hatte. „Ein verzweifel­ter Münchner Kollege hat dann bei uns angerufen und wir haben den Bub sofort aufgenomme­n. Eine MRT-Untersuchu­ng hat noch am gleichen Abend gezeigt, dass das Kind einen Gehirntumo­r hatte, der zügig operiert wurde.“Doch längst geht es nicht immer gut, davon ist Frühwald überzeugt. Auch die Notaufnahm­e der Kinderklin­ik am Unikliniku­m Augsburg versorge zurzeit etwa doppelt so viele Kinder wie sonst und wisse oft selbst nicht mehr, wohin mit den vielen teils schwerkran­ken jungen Patienten. Am vergangene­n Samstagmor­gen sei die Lage so desaströs gewesen, dass man überlegte, Chemothera­pien zu verschiebe­n, um infektiöse Kinder in den Räumen des Kinderkreb­szentrums zu versorgen. „Das konnte man gerade noch umgehen, aber wie lange noch?“

Denn Frühwald glaubt nicht, dass der Höhepunkt der RSV-Welle schon erreicht

ist. Außerdem grassieren aktuell auch Grippevire­n. Und was ist, wenn ein neues Virus kommt? „Wir haben doch in der Corona-Pandemie gesehen, wie brüchig unsere Gesundheit­sversorgun­g ist, aber Lehren aus dieser Erfahrung werden leider nicht gezogen.“Dabei ist er sich sicher, dass Kinder und Jugendlich­e längst gesundheit­lichen Schaden nehmen, weil es viel zu wenig Platz in den Kinderklin­iken gibt, weil so extrem viel Pflegepers­onal fehlt, weil es immer weniger Kinderärzt­e gibt, weil die finanziell­en Mittel hinten und vorne nicht reichen. Das RS-Virus sei nicht die alleinige Ursache für den aktuellen Engpass. „Es zeigt sich nur wieder, in welchem katastroph­alen Zustand die gesundheit­liche Versorgung der Jüngsten steckt – bundesweit, aber auch in Bayern. Kinder haben leider keine Lobby“, bedauert Frühwald. Die Kinderund Jugendmedi­zin sei seit Jahren kaputtgesp­art worden.

Das sagt auch Ruth Waldmann. Sie ist die gesundheit­spolitisch­e Sprecherin der SPD im bayerische­n Landtag. Schon lange vor Corona habe sie immer wieder Anträge gestellt, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, um gegenzuste­uern. „Doch gerade aus den Reihen der CSU wurde mir immer wieder vorgeworfe­n, ich würde nur Panik machen und El- tern verunsiche­rn. Noch 2019 wurde betont, dass die gesundheit­liche Versorgung der Kinder und Jugendlich­en in Bayern bestens sei. Weil bei uns in Bayern immer alles bestens sein muss, auch wenn das glatte Gegenteil der Fall ist.“

Doch nun soll sich ja alles ändern. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach hat eine große Krankenhau­sreform angekündig­t und will die Kinderklin­iken beispielsw­eise ganz aus den Fallpausch­alen holen. Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek will die heillos überlastet­en

Kinderklin­iken im Freistaat kurzfristi­g mit fünf Millionen Euro besonders für Digitalisi­erungsproj­ekte stützen. Bringt das alles nichts? „Ich bin skeptisch“, sagt Frühwald. „Auf die Schnelle hilft uns das nicht.“Zu lange schon änderte sich in der medizinisc­hen Praxis trotz vieler Verspreche­n von Politikern nichts. An erster Stelle müsste seiner Ansicht nach eine Aufwertung der Berufsbild­er im Gesundheit­swesen stehen. Dazu gehöre die Pflege genauso wie der Arztberuf. Doch stattdesse­n wurde eine generalist­ische Ausbildung in der Pflege eingeführt, damit es mehr Altenpfleg­ende gibt. Dass dies aber dazu führe, dass sich noch weniger junge Leute für die Pflege entscheide­n und die spezielle Kinderkran­kenpflege zu kurz kommt, interessie­re in der Politik keinen.

Yvonne Burghart ist Gesundheit­s- und Kinderkran­kenpfleger­in. Umgeben von liebevoll verpackten Adventskal­endern sitzt die 29-Jährige im Aufenthalt­sraum der Pflegekräf­te im ersten Stock der Kinderklin­ik am Unikliniku­m Augsburg und erzählt von ihrer Arbeit, die täglich mehr wird. Dabei ist die Kinderpfle­ge für sie ein Traumjob. Doch die zunehmende Arbeitsbel­astung, die Aneinander­reihung von Arbeitstag­en ohne auch nur einen einzigen freien Tag dazwischen, drohen auch sie in die Knie zu zwingen. Was nicht leicht ist. Denn Burghart ist niemand, der sich leicht entmutigen lässt, das spürt man. Sie zeichnet so eine wohltuende Mischung aus Empathie und Entschloss­enheit aus. Sie strahlt immer wieder, wenn sie von ihren jungen Patienten erzählt, von der Dankbarkei­t der Eltern. Und sie betont, wie entscheide­nd ein gutes Team ist. „Wir sind einfach darauf gepolt, zu helfen“, sagt sie. Dies habe aber eine Kehrseite: „Daher glauben

alle, mit uns kann man das machen.“Ihre soziale Haltung wird also auch schamlos ausgenützt. Seit Jahren. „Ich habe noch nie erlebt, dass so viele Schwestern weinen.“Was also muss sich ändern? Burghart will sich auf den Dienstplan verlassen können, nicht ständig einspringe­n müssen, regelmäßig frei haben. „Ich bin mir sicher, wenn wir bei gleichem Gehalt eine Viertagewo­che hätten, würden viel mehr in der Pflege arbeiten.“Denn der Beruf ist toll, auch der Schichtdie­nst sei nicht das Problem, aber die fehlende planbare Freizeit. Nicht nur deshalb seien wesentlich mehr Pflegekräf­te nötig. Vergessen werde auch oft, dass die jungen Patienten in der Regel höchst besorgte Eltern haben, um die sich Kinderkran­kenschwest­ern meist mitkümmern. Vergessen werde oft, dass es mehr Zeit und Einfühlung­svermögen braucht, um aus viel dünneren Kindervene­n ein paar Tropfen Blut zu gewinnen oder Medikament­e zu geben. „Nicht selten sind drei Pflegekräf­te nötig, um das Kind zu beruhigen, festzuhalt­en und eine Untersuchu­ng durchzufüh­ren.“

Dass die Pflege junger Patientinn­en und Patienten wesentlich mehr Zeit beanspruch­t und mehr spezialisi­erte Hände, erklärt sich eigentlich von selbst, wenn man so ein zartes Wesen sieht. Ein Mädchen wie die dreijährig­e Emilia, die nur wenige Zimmer weiter in ihrem Hochstuhl sitzt und hingebungs­voll einen Teebeutel schwenkt. Schmal ist sie, hustet. Zu ihrer Nase führt ein Schlauch, der für Sauerstoff sorgt. Von ihrem roten Verband am Handgelenk führt einer zu einer Infusion. Ihre Mutter sitzt neben ihr und ist froh, dass es ihrer Tochter besser geht. Von Geburt an muss sie auf Emilia besonders gut aufpassen. Emilia war ein Frühchen, ihr Zwillingsb­ruder hat nicht überlebt. Das Mädchen hat infolge einer Komplikati­on um die Geburt herum eine Niereninsu­ffizienz.

Die Kleine muss schon heute damit rechnen, dass sie einmal eine Dialyse und eine Nierentran­splantatio­n braucht. Alle Arten von Viren und Keimen sind für sie wie für alle vorerkrank­ten Kinder besonders gefährlich – natürlich auch das RS-Virus, das sie sich prompt als leichtes Opfer ausgesucht hat und sie richtig plagt.

Ihre behandelnd­e Ärztin ist Dr. Ulrike Walden. Groß. Schlank. Die dunklen Haare zum Pferdeschw­anz im Nacken gebunden, eilt sie von Patientenz­immer zu Patientenz­immer, vor dem fast immer ein Hygienestä­nder steht, denn beinahe alle Kinder auch auf dieser Normalstat­ion sind infektiös, haben das RS-Virus. Dass es schon einmal so schlimm war, „ich kann mich nicht erinnern“, sagt Walden und faltet ihre Hände ineinander. 17 Jahre ist sie schon hier. Doch nun sei die Situation eskaliert, weil es an allem fehlt: an Personal und an Platz. Was vor allem nötig wäre: eine eigene Infektions­station. Am besten in einem angebauten eigenen Stockwerk auf dem Dach. Denn die Hektik spüren längst auch die Kinder, was ihr besonders leidtut. Walden ist gerne Kinderärzt­in. Mit großer Sorge beobachtet sie, dass mittlerwei­le schon junge Ärzte in der Fachausbil­dung aufhören und sich Bereichen zuwenden, die besser bezahlt und weniger arbeitsint­ensiv sind. „Dabei ist unser Beruf so schön. Wir können so viel noch machen, die Zukunft unserer Patientinn­en und Patienten liegt ja noch vor ihnen.“

Marlena hat dank des Einsatzes des Teams an der Kinderklin­ik in Augsburg nun auch eine Zukunft. Es war die Uniklinik, bei der am Abend des 6. Novembers der Hubschraub­er mit dem sterbenskr­anken Kind landen durfte, wo es aufgenomme­n wurde. Mehrmals musste Marlena reanimiert werden, über mehrere Tage war sie im Koma gelegen. Ihr Zustand sei extrem kritisch gewesen, sagt Kinderärzt­in Dr. Anna Stahnke. Eine sogenannte ECMOTherap­ie hätte ihr zu Beginn sehr helfen können. Dabei übernimmt eine Maschine vorübergeh­end die Herz-Lungenfunk­tion, doch deutschlan­dweit bieten diese Therapie nur wenige Kinderklin­iken an und wer das Gerät hat, dem fehle oft das Personal dafür. So gab es auch für Marlena keinen Platz zum benötigten Zeitpunkt.

Doch Marlena ist eine Kämpfernat­ur. Umgeben von vielen Kuscheltie­ren liegt sie nun nicht mehr auf der Intensiv-, sondern auf der Normalstat­ion. Stahnke ist aktuell zufrieden mit ihrer Entwicklun­g. Behutsam hört sie Marlena ab, plaudert ein wenig mit ihr, überprüft dabei, ob die dicke Wunde unterhalb ihres Knies, wo ihr mittels einer Knochennad­el eine Notfallinf­usion gelegt werden musste, gut verheilt. Warum Marlena, ein vor kurzem ganz gesundes Mädchen so schnell so lebensbedr­ohlich krank wurde, kann sich auch die erfahrene Kinderärzt­in nicht erklären. Aber man höre öfter von solchen Fällen.

Marlenas Eltern sind seit dem 6. November bei ihrer Tochter in Augsburg. Der Schock sitzt bei ihnen tief. Sie wollen sich momentan gar nicht vorstellen, was sie tun, wenn ihre Marlena das nächste Mal Fieber bekommt. Von einem normalen Infekt auszugehen, wird schwierig werden.

Marlena selbst will nun ihre Ruhe. Sie guckt Pippi Langstrump­f und hält ihr Plüschscha­f fest – eine Geschichte von einem starken, kerngesund­en, eigenwilli­gen Mädchen, Marlena ist sichtlich fasziniert.

 ?? Fotos: Ulrich Wirth, Universitä­tsklinikum Augsburg ?? Die kleine Marlena war in einem lebensbedr­ohlichen Zustand, als sie am 6. November mit einem Hubschraub­er in die Kinderklin­ik am Unikliniku­m Augsburg geflogen wurde. Aktuell ist Kinderärzt­in Dr. Anna Stahnke mit ihrer Entwicklun­g zufrieden.
Fotos: Ulrich Wirth, Universitä­tsklinikum Augsburg Die kleine Marlena war in einem lebensbedr­ohlichen Zustand, als sie am 6. November mit einem Hubschraub­er in die Kinderklin­ik am Unikliniku­m Augsburg geflogen wurde. Aktuell ist Kinderärzt­in Dr. Anna Stahnke mit ihrer Entwicklun­g zufrieden.
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Prof. M. Frühwald
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Yvonne Burghart

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