Kein Platz mehr für schwerkranke Kinder
Das RS-Virus grassiert weiter. Wie gefährlich es vor allem für Säuglinge und Kleinkinder ist, erlebt gerade eine Familie an der Uniklinik Augsburg. Der Fall zeigt auch, wie schlecht es um die Gesundheitsversorgung der Jüngsten steht.
Augsburg Marlena ist eigentlich ein richtiges Energiebündel. Kerngesund. Spielt gerne draußen. Hat ihren eigenen Kopf. Infekte steckt das zweieinhalbjährige Mädchen mit den blonden Haaren gut weg. Zumindest war das so. Bis das RS-Virus kam. Das Respiratorische Synzytial-Virus. Ein Krankheitserreger, der bisher als eher harmlos galt und wie jetzt in den Wintermonaten oft grassiert. Er verursacht zwar Schnupfen, Husten, Fieber, seine Folgen sind in der Regel aber gut behandelbar. In diesem Jahr ist das bekanntlich anders.
Den 6. November, einen Sonntag, werden Marlenas Eltern nicht vergessen. Am Freitag hatte ihre Tochter schon Schnupfen und Fieber. Am Samstag ging es ihr aber wieder besser. „Da dachten wir, es ist eben ein normaler Infekt“, erzählt Marlenas Mutter Katharina Oswald. Doch am Sonntag hatte Marlena wieder Fieber. Es stieg auf über 40 Grad – und blieb oben. Das beunruhigte Katharina und Georg Oswald. Sie wohnen in Lenggries, südlich von Bad Tölz. Weil es keinen notdiensthabenden Kinderarzt in ihrer Region gegeben habe, fuhren sie mit Marlena in die Bereitschaftspraxis für Erwachsene nach Bad Tölz. Dort bekamen sie ein Rezept für einen Fiebersaft. Den habe es in der Apotheke aber gar nicht mehr gegeben. Beunruhigt machten sie sich auf den Weg, um doch einen diensthabenden Kinderarzt in Miesbach um Rat zu fragen. Der habe die Lunge der Kleinen abgehört und sie sofort ins Krankenhaus Agatharied geschickt. In der Klinik habe man schnell reagiert. Doch es stellte sich heraus, dass Marlena sofort auf eine Kinderintensivstation musste. Agatharied hat keine. Ein Hubschrauber wurde geordert, der die Kleine in die nächste Kinderintensivstation bringen sollte. Doch eine, die sie aufnimmt, galt es erst zu finden – die extreme Belastung für die Notärztin im Hubschrauber mit dem mittlerweile lebensbedrohlich kranken Kind, man mag es sich nicht vorstellen…
Kinderkliniken gerade im Großraum München sind oft so überlastet, dass sie keine Kinder mehr aufnehmen können, berichtet Prof. Dr. Michael Frühwald, der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Augsburg. Auch keine Notfälle mehr. Er weiß von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter von drei verschiedenen Münchner Kliniken abgewiesen wurde, obwohl er eine halbseitige Lähmung hatte. „Ein verzweifelter Münchner Kollege hat dann bei uns angerufen und wir haben den Bub sofort aufgenommen. Eine MRT-Untersuchung hat noch am gleichen Abend gezeigt, dass das Kind einen Gehirntumor hatte, der zügig operiert wurde.“Doch längst geht es nicht immer gut, davon ist Frühwald überzeugt. Auch die Notaufnahme der Kinderklinik am Uniklinikum Augsburg versorge zurzeit etwa doppelt so viele Kinder wie sonst und wisse oft selbst nicht mehr, wohin mit den vielen teils schwerkranken jungen Patienten. Am vergangenen Samstagmorgen sei die Lage so desaströs gewesen, dass man überlegte, Chemotherapien zu verschieben, um infektiöse Kinder in den Räumen des Kinderkrebszentrums zu versorgen. „Das konnte man gerade noch umgehen, aber wie lange noch?“
Denn Frühwald glaubt nicht, dass der Höhepunkt der RSV-Welle schon erreicht
ist. Außerdem grassieren aktuell auch Grippeviren. Und was ist, wenn ein neues Virus kommt? „Wir haben doch in der Corona-Pandemie gesehen, wie brüchig unsere Gesundheitsversorgung ist, aber Lehren aus dieser Erfahrung werden leider nicht gezogen.“Dabei ist er sich sicher, dass Kinder und Jugendliche längst gesundheitlichen Schaden nehmen, weil es viel zu wenig Platz in den Kinderkliniken gibt, weil so extrem viel Pflegepersonal fehlt, weil es immer weniger Kinderärzte gibt, weil die finanziellen Mittel hinten und vorne nicht reichen. Das RS-Virus sei nicht die alleinige Ursache für den aktuellen Engpass. „Es zeigt sich nur wieder, in welchem katastrophalen Zustand die gesundheitliche Versorgung der Jüngsten steckt – bundesweit, aber auch in Bayern. Kinder haben leider keine Lobby“, bedauert Frühwald. Die Kinderund Jugendmedizin sei seit Jahren kaputtgespart worden.
Das sagt auch Ruth Waldmann. Sie ist die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD im bayerischen Landtag. Schon lange vor Corona habe sie immer wieder Anträge gestellt, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, um gegenzusteuern. „Doch gerade aus den Reihen der CSU wurde mir immer wieder vorgeworfen, ich würde nur Panik machen und El- tern verunsichern. Noch 2019 wurde betont, dass die gesundheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen in Bayern bestens sei. Weil bei uns in Bayern immer alles bestens sein muss, auch wenn das glatte Gegenteil der Fall ist.“
Doch nun soll sich ja alles ändern. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat eine große Krankenhausreform angekündigt und will die Kinderkliniken beispielsweise ganz aus den Fallpauschalen holen. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek will die heillos überlasteten
Kinderkliniken im Freistaat kurzfristig mit fünf Millionen Euro besonders für Digitalisierungsprojekte stützen. Bringt das alles nichts? „Ich bin skeptisch“, sagt Frühwald. „Auf die Schnelle hilft uns das nicht.“Zu lange schon änderte sich in der medizinischen Praxis trotz vieler Versprechen von Politikern nichts. An erster Stelle müsste seiner Ansicht nach eine Aufwertung der Berufsbilder im Gesundheitswesen stehen. Dazu gehöre die Pflege genauso wie der Arztberuf. Doch stattdessen wurde eine generalistische Ausbildung in der Pflege eingeführt, damit es mehr Altenpflegende gibt. Dass dies aber dazu führe, dass sich noch weniger junge Leute für die Pflege entscheiden und die spezielle Kinderkrankenpflege zu kurz kommt, interessiere in der Politik keinen.
Yvonne Burghart ist Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin. Umgeben von liebevoll verpackten Adventskalendern sitzt die 29-Jährige im Aufenthaltsraum der Pflegekräfte im ersten Stock der Kinderklinik am Uniklinikum Augsburg und erzählt von ihrer Arbeit, die täglich mehr wird. Dabei ist die Kinderpflege für sie ein Traumjob. Doch die zunehmende Arbeitsbelastung, die Aneinanderreihung von Arbeitstagen ohne auch nur einen einzigen freien Tag dazwischen, drohen auch sie in die Knie zu zwingen. Was nicht leicht ist. Denn Burghart ist niemand, der sich leicht entmutigen lässt, das spürt man. Sie zeichnet so eine wohltuende Mischung aus Empathie und Entschlossenheit aus. Sie strahlt immer wieder, wenn sie von ihren jungen Patienten erzählt, von der Dankbarkeit der Eltern. Und sie betont, wie entscheidend ein gutes Team ist. „Wir sind einfach darauf gepolt, zu helfen“, sagt sie. Dies habe aber eine Kehrseite: „Daher glauben
alle, mit uns kann man das machen.“Ihre soziale Haltung wird also auch schamlos ausgenützt. Seit Jahren. „Ich habe noch nie erlebt, dass so viele Schwestern weinen.“Was also muss sich ändern? Burghart will sich auf den Dienstplan verlassen können, nicht ständig einspringen müssen, regelmäßig frei haben. „Ich bin mir sicher, wenn wir bei gleichem Gehalt eine Viertagewoche hätten, würden viel mehr in der Pflege arbeiten.“Denn der Beruf ist toll, auch der Schichtdienst sei nicht das Problem, aber die fehlende planbare Freizeit. Nicht nur deshalb seien wesentlich mehr Pflegekräfte nötig. Vergessen werde auch oft, dass die jungen Patienten in der Regel höchst besorgte Eltern haben, um die sich Kinderkrankenschwestern meist mitkümmern. Vergessen werde oft, dass es mehr Zeit und Einfühlungsvermögen braucht, um aus viel dünneren Kindervenen ein paar Tropfen Blut zu gewinnen oder Medikamente zu geben. „Nicht selten sind drei Pflegekräfte nötig, um das Kind zu beruhigen, festzuhalten und eine Untersuchung durchzuführen.“
Dass die Pflege junger Patientinnen und Patienten wesentlich mehr Zeit beansprucht und mehr spezialisierte Hände, erklärt sich eigentlich von selbst, wenn man so ein zartes Wesen sieht. Ein Mädchen wie die dreijährige Emilia, die nur wenige Zimmer weiter in ihrem Hochstuhl sitzt und hingebungsvoll einen Teebeutel schwenkt. Schmal ist sie, hustet. Zu ihrer Nase führt ein Schlauch, der für Sauerstoff sorgt. Von ihrem roten Verband am Handgelenk führt einer zu einer Infusion. Ihre Mutter sitzt neben ihr und ist froh, dass es ihrer Tochter besser geht. Von Geburt an muss sie auf Emilia besonders gut aufpassen. Emilia war ein Frühchen, ihr Zwillingsbruder hat nicht überlebt. Das Mädchen hat infolge einer Komplikation um die Geburt herum eine Niereninsuffizienz.
Die Kleine muss schon heute damit rechnen, dass sie einmal eine Dialyse und eine Nierentransplantation braucht. Alle Arten von Viren und Keimen sind für sie wie für alle vorerkrankten Kinder besonders gefährlich – natürlich auch das RS-Virus, das sie sich prompt als leichtes Opfer ausgesucht hat und sie richtig plagt.
Ihre behandelnde Ärztin ist Dr. Ulrike Walden. Groß. Schlank. Die dunklen Haare zum Pferdeschwanz im Nacken gebunden, eilt sie von Patientenzimmer zu Patientenzimmer, vor dem fast immer ein Hygieneständer steht, denn beinahe alle Kinder auch auf dieser Normalstation sind infektiös, haben das RS-Virus. Dass es schon einmal so schlimm war, „ich kann mich nicht erinnern“, sagt Walden und faltet ihre Hände ineinander. 17 Jahre ist sie schon hier. Doch nun sei die Situation eskaliert, weil es an allem fehlt: an Personal und an Platz. Was vor allem nötig wäre: eine eigene Infektionsstation. Am besten in einem angebauten eigenen Stockwerk auf dem Dach. Denn die Hektik spüren längst auch die Kinder, was ihr besonders leidtut. Walden ist gerne Kinderärztin. Mit großer Sorge beobachtet sie, dass mittlerweile schon junge Ärzte in der Fachausbildung aufhören und sich Bereichen zuwenden, die besser bezahlt und weniger arbeitsintensiv sind. „Dabei ist unser Beruf so schön. Wir können so viel noch machen, die Zukunft unserer Patientinnen und Patienten liegt ja noch vor ihnen.“
Marlena hat dank des Einsatzes des Teams an der Kinderklinik in Augsburg nun auch eine Zukunft. Es war die Uniklinik, bei der am Abend des 6. Novembers der Hubschrauber mit dem sterbenskranken Kind landen durfte, wo es aufgenommen wurde. Mehrmals musste Marlena reanimiert werden, über mehrere Tage war sie im Koma gelegen. Ihr Zustand sei extrem kritisch gewesen, sagt Kinderärztin Dr. Anna Stahnke. Eine sogenannte ECMOTherapie hätte ihr zu Beginn sehr helfen können. Dabei übernimmt eine Maschine vorübergehend die Herz-Lungenfunktion, doch deutschlandweit bieten diese Therapie nur wenige Kinderkliniken an und wer das Gerät hat, dem fehle oft das Personal dafür. So gab es auch für Marlena keinen Platz zum benötigten Zeitpunkt.
Doch Marlena ist eine Kämpfernatur. Umgeben von vielen Kuscheltieren liegt sie nun nicht mehr auf der Intensiv-, sondern auf der Normalstation. Stahnke ist aktuell zufrieden mit ihrer Entwicklung. Behutsam hört sie Marlena ab, plaudert ein wenig mit ihr, überprüft dabei, ob die dicke Wunde unterhalb ihres Knies, wo ihr mittels einer Knochennadel eine Notfallinfusion gelegt werden musste, gut verheilt. Warum Marlena, ein vor kurzem ganz gesundes Mädchen so schnell so lebensbedrohlich krank wurde, kann sich auch die erfahrene Kinderärztin nicht erklären. Aber man höre öfter von solchen Fällen.
Marlenas Eltern sind seit dem 6. November bei ihrer Tochter in Augsburg. Der Schock sitzt bei ihnen tief. Sie wollen sich momentan gar nicht vorstellen, was sie tun, wenn ihre Marlena das nächste Mal Fieber bekommt. Von einem normalen Infekt auszugehen, wird schwierig werden.
Marlena selbst will nun ihre Ruhe. Sie guckt Pippi Langstrumpf und hält ihr Plüschschaf fest – eine Geschichte von einem starken, kerngesunden, eigenwilligen Mädchen, Marlena ist sichtlich fasziniert.