Als der Krieg nach Russland kam
In dieser Woche sind ukrainische Drohnen so nah bei Moskau eingeschlagen wie noch nie. Was das für den weiteren Verlauf der Kämpfe und die Anforderungen an den Westen bedeutet.
Augsburg/Kiew Es ist einer der erstaunlicheren Auftritte des russischen Präsidenten in diesen an Erstaunlichkeiten nicht gerade armen Zeiten. Wladimir Putin hält sein Sektglas in der rechten Hand, er wippt von einem Bein aufs andere, immer wieder grinst er, zieht die Augenbrauen nach oben. Ausgerechnet Putin, der disziplinierte und kontrollierte Staatsmann, sieht sich mit hämischen Kommentaren konfrontiert, ob er vielleicht angetrunken sei. Und das bei einer Rede zum Krieg. Der PutinExperte Anders Aslund schrieb auf Twitter: „Dies ist das erste Mal, dass ich Putin in irgendeinem Zusammenhang betrunken gesehen habe. Er redet wie immer Unsinn, aber er scheint zu erkennen, dass er ein Versager ist. Sehr interessant und vielversprechend.“
Fast täglich muss der 70-Jährige hinnehmen, dass Gegenschläge von ukrainischer Seite mit Drohnen oder anderen Waffen nun die in Russland für das Militär und die Energieversorgung wichtige Infrastruktur treffen. Die Bilder von Bränden und Rauchwolken, die etwa auch am Donnerstag wieder in Belgorod in Grenznähe zur Ukraine zu sehen waren, gelten als verheerend für das vom Kreml gezeichnete Bild der Unverletzlichkeit Russlands. Die britischen Geheimdienste werteten die jüngsten Angriffe auf russische Militärflughäfen als signifikanten Rückschlag für Putin. Sollte Russland die Explosionen als gezielte Attacken einstufen, sei dies wohl ein schweres Versagen beim Schutz der eigenen Truppen, schrieb das britische Verteidigungsministerium in dieser Woche in seinem täglichen Geheimdienstbericht auf Twitter.
Doch was bedeuten die Schläge, die so weit ins russische Landesinnere reichen, wie noch nie in diesem Krieg? „Es bedeutet derzeit nicht sehr viel“, dämpft Joachim Krause, Chef des Instituts für Sicherheitspolitik in Kiel, die Erwartungen an ein Ende des nun schon fast zehn Monate währenden Krieges. Die Ukraine habe zwar mit alten Drohnen sowjetischer Bauart und neuer Zielerfassungstechnologie die russische Luftabwehr einige Male überlisten können und kleine Erfolge erzielt. „Ich vermute, dass das nicht dauerhaft zu einem Problem für Russland wird, es sei denn, dass findige Ingenieure heimlich eine Wunderwaffe entwickelt haben“, sagt der Experte. „Bei
der furchtbaren – und möglicherweise kriegsentscheidenden – Asymmetrie zugunsten Russlands bei den Fähigkeiten, Ziele tief im gegnerischen Gebiet anzugreifen, wird es wohl bleiben.“
Der Angriff tief im russischen Hinterland kam nicht völlig überraschend. Bereits 2020 war der Prototyp einer Kampfdrohne mit dem Namen Sokil-300 (Deutsch: Falke-300) vom Kiewer Entwicklungsbüro Lutsch präsentiert worden. Die Angriffe auf das südrussische Gebiet Saratow erfolgten mit Drohnen vom Typ Tu-141 „Strisch“(Deutsch: Segler) mit einer Reichweite von bis zu 600 Kilometern. Von Kiew nach Moskau sind es Luftlinie 760 Kilometer.
Seit Langem schon fordert die Ukraine von den USA und anderen Nato-Staaten Angriffswaffen mit größerer Reichweite. Der Westen zögert, auch weil er verhindern will, dass der Krieg durch Attacken gegen Russland weiter eskaliert. Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann betont allerdings: „Nach unserer Ansicht übt die Ukraine ihr Recht auf Selbstverteidigung aus“, wie es in Artikel 51 der
UN-Charta verankert sei. „Die Bundesregierung hält da, was die Ukraine da macht, für legitim.“
Für den Sicherheitsexperten Krause sind solche Erklärungen zu wenig. „Ich halte dieses Zögern für gefährlich“, sagt er. „Es ist faktisch eine Einladung an Russland, die Ukraine immer stärker zu zerstören und dadurch den Krieg auf der strategischen Ebene zu gewinnen, wenn es auf dem Schlachtfeld nicht gelingt.“Denn die Angriffe der Ukraine bleiben Einzelfälle, während Russland die massive
Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur fortsetzt. „Zwar helfen Luftabwehrsysteme, aber die Russen können diese saturieren“, sagt Krause. „Es ist mir rätselhaft, dass die US-Regierung Russland nicht vor die Alternative gestellt hat, entweder diese Angriffe einzustellen oder damit rechnen zu müssen, dass man den Ukrainern Waffen gibt, die tief in den russischen Raum hineinwirken können. Die Bereitschaft zur Eskalation ist manchmal wichtig, um einen Krieg beenden zu können!“
Deutschland spielt allerdings für Krause in dieser Frage ausdrücklich keine Rolle. Die Bundeswehr verfüge nämlich gar nicht über Langstreckenwaffen, wenn man mal von Kampfflugzeugen absehe, die theoretisch tief in russisches Gebiet eindringen könnten. Deren Transfer nach Russland steht derzeit nicht zur Debatte. „Notwendig wären Marschflugkörper, ballistische Raketen und bewaffnete Drohnen größerer Reichweite, die wir nicht besitzen“, sagt der Experte. Auch die USA besitzen keine landgestützten Mittelstreckenraketen mit den hier geforderten Reichweiten von über 500 Kilometern. „Was die USA aber machen könnten, wäre HIMARS-Raketenwerfer
Putin versagt beim Schutz der eigenen Truppen
mit Flugkörpern auszurüsten, die Reichweiten von bis zu 300 Kilometern haben.“Ansonsten verfügen die US-Streitkräfte über luftgestützte Marschflugkörper, die in ukrainische Kampfflieger integriert werden müssten und Kampfdrohnen, die auch über längere Distanzen eingesetzt werden können. Dies wäre nach Ansicht Krauses vermutlich nur mit erheblichem Aufwand an technischen Umbaumaßnahmen und Ausbildungsaktivitäten möglich. „Aber die US-Regierung hat sich bislang geweigert, weiterreichende Waffen an die Ukraine zu geben“, sagt er. „Man befürchtet eine Eskalation. Ich halte dieses Argument für nicht stichhaltig und Ausdruck von übertriebener Furcht.“
Putin selbst lächelt und trinkt Sekt. Russland sei um neue Gebiete gewachsen, sagt er. „Das ist doch ein bedeutendes Ergebnis für Russland.“(mit dpa)