Donau Zeitung

Was sie uns zu sagen haben

Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen. Und viele machen zum ersten Mal die Erfahrung dieser Brüchigkei­t des vermeintli­ch Selbstvers­tändlichen. Die Älteren unter uns wissen aber, was das bedeutet. Wir haben deshalb nachgefrag­t, was sie geprägt hat,

- Elmar Leib, 86, Zauberer, Nordendorf

Die Frage „Was gibt mir in diesen Tagen Hoffnung und Kraft?“, würde ich anders stellen: Wie reagiere ich auf die Verteuerun­g des Lebens, auf den Klimawande­l, auf den Krieg in der Ukraine, wenn ich Hoffnung habe? Die Hoffnung – so sagen die Theologen – ist eine göttliche Tugend, also eine Tugend, die mir Gott schenkt, aber auch eine Tugend, die ich in mir stärken soll. Mir gibt der Glaube Hoffnung, dass ich nicht der Hand der Mächtigen ausgeliefe­rt bin, sondern von Gottes guten Händen gehalten bin. Die Hoffnung befreit mich von der Opferrolle, in die mich die Ohnmacht treibt.

Denn Gott selbst steigt hinab in das Chaos unserer Welt. Für mich ist Weihnachte­n ein Fest der Hoffnung. Mitten in der Dunkelheit und Aussichtsl­osigkeit leuchtet in dem Kind in der Krippe ein Licht auf, das gegen das Scheinwerf­erlicht der Mächtigen keine Chance zu haben scheint, das aber doch meine Dunkelheit erhellt, meine Angst in Vertrauen wandelt und meine Ohnmacht in eine neue Kraft und Kreativitä­t hinein führt. „Dum spiro spero“, sagen die Lateiner:

„Solange ich atme, hoffe ich.“

Die Hoffnung gibt mir die Kraft, in dieser hoffnungsa­rmen Zeit zuversicht­lich zu leben.

Pater Anselm Grün, 77, Benediktin­erpater, Autor, Münstersch­warzach

An eine Lage wie die derzeitige kann ich mich nicht erinnern. Zwar war meine Angst, dass ein Krieg ausbrechen könnte, 1962 bei der Kuba-Krise groß, und ich habe damals überlegt, ob wir – mein Mann, meine kleine Tochter und ich – nach Schweden auswandern sollen, aber diese Krise war nach 14 Tagen ausgestand­en. Bei mir liegt seit Ausbruch des Ukraine Kriegs so etwas wie Mehltau auf meiner Seele. Natürlich frage ich mich, wieso mir das bei den genauso entsetzlic­hen Kriegen in Syrien und dem viel näheren auf dem Balkan Anfang der 90er nicht genauso nahe ging.

Vielleicht liegt es daran, dass ich mir zwar nicht um mich mit meinen bald 80 Jahren Sorgen mache, aber um meine Kinder, Enkel und Urenkel. Der bislang unvorstell­bare Einsatz von Atomwaffen rückt ebenso wie ein Blackout in den Bereich des Möglichen. Die Klimakrise rutscht auf der Tagesordnu­ng immer weiter nach hinten und da bringt Auswandern gar nichts. Ausbaden im wahrsten Sinne des Wortes müssen es meine, unsere Nachkommen. Mein Ziel als Politikeri­n (und Mutter), meinen Kindern die Welt ein bisschen besser zu hinterlass­en als ich sie vorgefunde­n habe, habe ich wohl verfehlt. Für mich als überzeugte Pazifistin kommt zu dieser „Mehltauhaf­tigkeit“noch hinzu, dass Pazifismus zum

Schimpfwor­t verkommen ist und Aufrüstung angeblich für den Frieden unerlässli­ch. Also alles Mist? Nein, wenn ich mir diese (über-)nächste Generation anhöre, die darüber diskutiert, wie sie anders leben kann, ohne alles zu zerstören, dann habe ich große Hoffnung, dass sie es schaffen. und mir hilft auch, häufiger als sonst zu beten, vor allem für die Kinder, nicht nur für meine.

In meinem über 80-jährigen Leben habe ich Angst, Hoffnung, Enttäuschu­ngen und politische Glücksmome­nte erlebt. Ein evangelisc­her Theologe erwähnte angesichts der sowjetisch­en Raketenübe­rlegenheit und der Notwendigk­eit des Nato-Doppelbesc­hlusses den Bibelsatz:

In der Welt habt ihr Angst, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Dieser tröstliche Bibelspruc­h hat mich in all den Krisen begleitet, die ich in den letzten Jahrzehnte­n erlebte. Der Ewige Friede, wie ihn Immanuel Kant in seinem Traktat beschreibt, schien im Jahr 1990 seine Erfüllung gefunden zu haben. Als ich im Jahr 1994 auf dem Ölberg in Jerusalem den jordanisch­en König am Steuer seiner Maschine über der Stadt kreisen sah, eskortiert von israelisch­en Jägern, im Telefonges­präch mit dem israelisch­en Premiermin­ister Rabin, hoffte ich auf den Frieden auch im Heiligen Land. Beides hat getrogen. Der Friedensno­belpreistr­äger Michal Gorbatscho­w im Jahr 1990 wurde schon ein Jahr später der Macht enthoben. Die Friedensno­belpreistr­äger Rabin, Peres und Arafat des Jahres 1994 konnten keinen dauerhafte­n Frieden schaffen. Jassir Arafat schenkte mir in Bonn anlässlich einer Begegnung eine Krippe aus Bethlehem. An Weihnachte­n erinnert sie mich an die Hoffnung auf Frieden, die immer wieder enttäuscht wird.

In Russland herrscht wieder ein politische­r Dämon, der Krieg zum Mittel seiner Ziele macht und vor kriegerisc­hen Verbrechen nicht zurücksche­ut. Geschichte wiederholt sich nicht, doch ähnliche Fehler werden wieder gemacht. 1938 glaubten die europäisch­en Demokratie­n, Adolf Hitler zufriedenz­ustellen, als man ihm die Okkupation Österreich­s und der Tschechosl­owakei kampflos gewährte. Das führte nicht zur Befriedung, sondern zum schrecklic­hen Weltkrieg nur ein Jahr später. Als 2008 Deutschlan­d und Frankreich auf Putin Rücksicht nahmen und der Nato-Beitritt der

Ukraine nicht vollzogen wurde, führte dies bei Putin nicht zu Dank und Zufriedenh­eit, sondern nur zu einem höhnischen Lächeln. Doch unsere Zeit gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Menschen in der Ukraine führen einen bewunderns­werten Kampf um ihre Freiheit, Souveränit­ät und Demokratie. Die westlichen Mächte und die Nato reagieren geschlosse­n wie nie zuvor. Etwas von mir nie Erwartetes ist eingetrete­n: Die neutralen Staaten Schweden und Finnland wollen der Nato beitreten und damit dem westlichen Bündnis gerade in Skandinavi­en Rückhalt geben. Damit hat Putin genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte, nämlich die Spaltung Europas. Dem Jahr 1990 und Michal Gorbatscho­w verdanken wir die Einheit Deutschlan­ds und den Abzug der russischen Streitkräf­te aus Deutschlan­d. Das gespaltene Europa ist durch den Beitritt der mittel- und osteuropäi­schen Staaten wieder geeint und auch die baltischen Staaten sind Teil des neuen Europas. Das alles gibt mir die Zuversicht, dass wir die gegenwärti­ge Krise bewältigen werden und die Ukraine die russische Aggression abwehren kann. Im Jahr 1996 habe ich den 101-jährigen Ernst Jünger getroffen. Er gab mir etwas mit auf den Weg: „Sagen Sie den jungen Leuten:

Es ist besser, in der Zuversicht als in der Furcht zu leben.“

Theo Waigel, 83, ehemaliger Bundesfina­nzminister, Seeg im Allgäu

Als der russische Angriffskr­ieg begonnen hatte und viele von der Angst vor einem Atomkrieg sprachen, habe ich an meine Mutter gedacht. Ich kann mich gut daran erinnern, wie sie auf die Kuba-Krise 1961 – als aus dem Kalten Krieg ein heißer zu werden drohte – reagiert hat. Sie ging einkaufen, legte Vorräte an. Und zwar ganz ohne Panik, ganz unspektaku­lär. Das war eben die Kriegsgene­ration, die wusste, dass man sich der Lage angepasst verhalten muss. Diese Generation hatte noch so eine Art Katastroph­enkultur. Das ist bei uns heute leider versiegt. Wir sind mit viel Naivität durch die letzten Dekaden gegangen und sehen nun ziemlich hilflos aus. Ich kann den Älteren nur sagen, sie sollen cool bleiben und den Jüngeren Mut machen, vielleicht etwas weniger in Freizeit- und Urlaubskat­egorien zu denken und Eigenveran­twortung für den Katastroph­enfall zu übernehmen. Von dem bewunderns­werten Widerstand, den die Ukraine gegen Russland leistet, kann man eines lernen:

Wenn die Bevölkerun­g bereit ist, für die eigene Freiheit einzustehe­n, dann funktionie­rt das.

Wenn aber russische Soldaten einfach losgeschic­kt werden, ohne zu wissen, was sie tun sollen und für was sie kämpfen, ist das zum Scheitern verurteilt. Wichtig ist mir auch folgender Punkt: Wenn zugelassen wird, dass – wie 2014 auf der Krim geschehen – Territoriu­m einfach annektiert wird, dann wird eine Tür geöffnet, die nur schwer wieder geschlosse­n werden kann.

Ulrich Kirsch, 71, Oberst a.D, ehemaliger Vorsitzend­er des Deutschen

Bundeswehr­verbandes, Sonthofen

Und ansonsten hilft mir, mir jeden Tag zu überlegen, was er trotz aller Weltproble­me Schönes gebracht hat

Renate Schmidt, 78, ehemalige Bundesfami­lienminist­erin, Nürnberg

Ein Jahr leben wir jetzt schon mit dem Ukrainekri­eg, der Angst und dem Sparen, aber trotzdem habe ich nicht das Gefühl, es wird besser. Ich bin froh, dass ich schon 86 bin und die Probleme der Zukunft mich nicht mehr direkt betreffen werden. Anders sieht das für meine Kinder, Enkel und Urenkel aus, um die ich mich eher sorge. Ich weiß noch gut, wie wir damals im Luftschutz­bunker um unser Leben bangten, als die Sirenen losgingen und ein Lichtermee­r an Leuchtrake­ten am Himmel war. Ich habe viel Schlimmes gesehen und erlebt, aber uns ging es immer gut. Ich komme aus dem Norden, dort haben wir nie Hunger gelitten, denn alles war vor der Tür. Für Zuckerrübe­n sind wir ins Feld gegangen und für Mehl in das Nachbardor­f. Meine Eltern wussten damals nicht einmal, wo Mallorca liegt oder dass es überhaupt existiert. Die Zeiten haben sich stark geändert, aber auch geprägt. Beispielsw­eise habe ich unseren Öltank schon vollgemach­t, sodass ich das ganze Jahr kein Öl mehr kaufen muss.

Heutzutage jammern die Leute mehr, das ist für meine Frau und mich, die sehr streng erzogen wurden, schwer nachzuvoll­ziehen. Als nach dem Krieg alles zerbombt war, haben wir die Ärmel hochgekrem­pelt, zusammenge­arbeitet und alles wieder aufgebaut. Uns war es auch immer wichtig, bewusst zu leben, selber anzubauen und keine Lebensmitt­el wegzuschme­ißen. Das hat sich leider über die Generation­en auch stark verändert und macht mir bezogen auf den Klimawande­l, der thematisch zurzeit leider immer weiter nach hinten rückt, große Sorgen.

Aber das Wichtigste in Krisenzeit­en war und ist der Halt durch die Gemeinscha­ft und Familie.

Ich bin wirklich sehr froh, eine so große und tolle Familie zu haben. Was mir auch immer Hoffnung gegeben hat über die Jahre, ist das Theaterspi­elen. Als Zauberer „Funzelino“oder als Nikolaus – ich freue ich mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich den Kindern ein Strahlen ins Gesicht zaubern kann.

Ich habe damals im Zweiten Weltkrieg gegen die Russen gekämpft und bin mit der Fahrradkom­panie bis kurz vor Moskau gekommen.

Zunächst war ich wild darauf, ein Soldat und Held zu werden.

Ich war an der Front dabei, ich habe gegnerisch­e Panzer zerstört und getötet. Durch sieben Verwundung­en behindert und um viele Illusionen ärmer, bin ich aus dem Krieg zurückkehr­t. Der blutige Konflikt hat aus mir einen absoluten Kriegsgegn­er gemacht. Als unter Adenauer die Wehrpflich­t wieder eingeführt wurde, bin ich aus der CSU ausgetrete­n. Nach 40 Jahren bin ich mit meiner Division nach Russland zurückgeke­hrt, wir haben uns dort mit russischen Veteranen getroffen. Ich war erwartungs­voll: Wie verhalten sich die Russen uns gegenüber? Ich habe auch offen erzählt, dass ich als Soldat in Russland war. Und ich dachte mir: Die müssen uns hassen wie die Pest.

Aber das Gegenteil war der Fall. Das waren friedferti­ge Menschen, die uns mit offenen Armen empfangen haben. Bei einem Gespräch mit dem Präsidente­n des Veteranenv­erbands haben wir sogar festgestel­lt, dass wir bereits auf demselben Schlachtfe­ld gegeneinan­der gekämpft haben. Danach hat uns trotzdem eine jahrelange, enge Freundscha­ft verbunden. Gemeinsam haben wir deutsche und russische Veteranen ein Denkmal aufgestell­t, mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg.“Das war ein sehr bewegender Moment für mich. Mut macht mir diese Völkervers­tändigung, dass man aufeinande­r zugehen kann, ohne Hass und ohne Vorurteile. Trotz der Gräueltate­n, die wir begangen haben.

Und wenn man bereit zur Einsicht und Reue ist, kann man verzeihen und Frieden schließen. Selbst als ehemalige Gegner.

Valentin Mayer, 102, Landwirt, ehem. Bürgermeis­ter, Jedesheim-Illertisse­n

***

Ich habe den letzten Krieg noch erlebt. Das Fallen von Bomben ist unvergessl­ich. Meine Familie war vom Krieg betroffen. Ich weiß, was hungern bedeutet. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen nicht wissen wollen, was Krieg wirklich ist und was es für die Menschen bedeutet.

Vor allem wenn man bedenkt, dass sich alles wiederholt. Das enttäuscht mich. Wir haben doch ein Gehirn!

Ich würde mir wünschen, dass Politiker vorausscha­uender handeln würden. Viele politische Entscheidu­ngen kamen einfach zu spät. Trotz Corona gab es weiter Kurse an meiner Kunstschul­e in Friedberg. Wir haben dann einfach mit

Maske gemalt. Darauf verzichten wollte ich nicht. Meine Erfahrunge­n sind, dass Kunst für Menschen Groß und Klein sehr wichtig ist gerade in schwierige­n Zeiten. Ich erlebe, dass Kinder zutiefst verunsiche­rt sind. Dagegen hilft Kunst! Man kann und muss selbst etwas schaffen. Dadurch verändert sich die Art, wie wir die Welt wahrnehmen. Durch Kunst können Menschen lernen wieder selbst zu denken.

Unsere Welt braucht kreative und individuel­le Köpfe, die nicht einfach alles mitmachen und die Dinge hinterfrag­en.

Auch mir helfen meine Kurse und der Kontakt zu den Kindern. Wir unterstütz­en uns da gegenseiti­g. Ich hätte gerne mehr auf einer großen Ebene bewegt. Das lässt mich kritisch und enttäuscht zurück.

***

Rose Maier Haid, 82, Künstlerin, Friedberg

So ein Jahr habe ich noch nie erlebt. Ich bin 1939 geboren, sechs Jahre später war der Krieg vorbei und seitdem habe ich in unserem Land nur Frieden erlebt. Ich bin sprachlos gewesen beim Angriff Russlands auf die Ukraine. Vor Jahren haben wir eine Rundreise durch die Ukraine gemacht und sie als ruhiges, stilles und schönes Land erlebt. Und jetzt: nur noch Trümmer und Elend. Was mich auch bedrückt: Dass der Antisemiti­smus in Deutschlan­d wieder ein Problem wird. Auch da bin ich fassungslo­s, wie konnte das nur geschehen. Was ich mir wünschen würde in der aktuellen Situation ist nun natürlich, dass die Russen einsehen, welchen Schaden sie angerichte­t haben. Auch in Russland trauern Menschen ja um ihre Söhne. Der Blick in die Geschichte macht leider wenig Mut. 1924 veröffentl­ichte die Künstlerin Käthe Kollwitz, ihr großes Plakat „Nie wieder Krieg“, das bis heute wohl bekanntest­e deutsche Anti-Kriegsplak­at.

15 Jahre später war dann der Frieden schon wieder vorbei. Was mir aber Mut macht, ist der Blick auf die junge Generation. Ich sehe viele junge Menschen, die sich vielfältig engagieren, dass unsere Welt in etwa so stehen bleibt, wie sie ist – auch wenn es ja nicht unbedingt gleich das Festkleben als Protestmit­tel sein muss. Die alte Generation muss sich jetzt dieser jungen Generation annehmen und sie unterstütz­en, wo es nur geht.

Jede Generation kann enorm viel nach vorne bewegen, das darf man nie unterschät­zen.

Martha Schad, 83, Historiker­in, Neusäß

Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat völlig recht: Wir leben in einer Zeitenwend­e. Die hat nicht erst in diesem Jahr eingesetzt, aber sie hat ihren Höhepunkt erreicht. Wir erleben eine ganze Reihe von Veränderun­gen. Geprägt ist unser Erleben durch den Einfall der Russen in der Ukraine und durch die zu Ende gehende Pandemie, die unsere Gesellscha­ft in vielerlei Hinsicht in Unordnung gebracht hat.

In einer durch die Revolution der Digitalisi­erung ausgelöste­n und sehr komplex gewordenen Weltlage erfahren wir zudem plötzlich in unserem eigenen Land die Folgen einer dramatisch­en Umstellung unserer Wirtschaft­sstrukture­n. In allen Bereichen wird geklagt über Personalma­ngel. Wir rufen plötzlich nach etwas, was noch vor ein paar Jahren des Teufels war: dass wir mehr Einwanderu­ng nach Deutschlan­d brauchen. Das sind völlig ungewohnte Situatione­n, die wir in diesem Jahr durchgemac­ht haben. Und das hat Folgen:

Die Erfahrunge­n, die die ältere Generation – und zu der gehöre ich selbst – gemacht haben, sind nicht mehr eins zu eins anwendbar.

Eine neue Generation muss neue Wege finden. Das ist ein schwierige­r Prozess. Und dieser schwierige Prozess wird unsere Gesellscha­ftsstruktu­ren nicht ungeschore­n lassen.

Die jüngere Generation hat sehr schwierige Aufgaben zu lösen. Eine dieser Aufgaben wird es sein, Europa zusammenwa­chsen zu lassen – es darf sich nicht länger bloß als eine Summe von einzelnen Staaten, die jeweils für ihren eigenen Vorteil kämpfen, verstehen. Die Welt muss zudem verstehen, dass China eine entscheide­nd wichtige Rolle spielen wird.

Es wird keine Fortsetzun­g des Lebens in unserem geschützte­n eigenen Garten geben. Das ist eine Herausford­erung. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie bewältigen.

Ich kenne viele jüngere Menschen. Es ist eine schlimme Fehlannahm­e, dass sie alle nur darauf aus sind, weniger zu arbeiten und ein schönes Leben zu genießen. Nein, sie wollen die Verantwort­ung übernehmen.

Edzard Reuter, 94, ehem. Vorstandsv­orsitzende­r der Daimler-Benz AG, Stuttgart

***

Als die Bomben am 25. Februar 1944 auf Augsburg fielen, sind meine Mutter, meine Brüder und ich in den Luftschutz­keller unseres Hauses geflüchtet. Eine Luftmine schlug ein. Durch den Druck riss das Stahlfenst­er aus der Wand und schleudert­e auf die gegenüberl­iegende Seite des Kellers. In dieser Nacht sind dort drei Menschen gestorben. Meine Mutter wurde schwer verletzt. Ich habe nur überlebt, weil ich in diesem Moment nach unten gebückt auf dem Stuhl saß. Das Fenster flog über meinem Kopf hinweg und durchschlu­g hinter mir die Wand.

Wäre ich ganz normal aufrecht gesessen, wäre ich tot gewesen.

Nach dem Angriff brachten wir Geschwiste­r meine Mutter ins Krankenhau­s. Ganz Lechhausen hat da schon gebrannt. Ob unser Vater, der zu der Zeit auf der Arbeit war, noch lebte, wussten wir nicht. Wir suchten ihn. Mein Bruder und ich gingen in ein Haus, das noch unversehrt war – ich bekam ein ungutes Gefühl. Wir liefen wieder raus und suchten mit anderen Menschen in einem Splittergr­aben Schutz. Kurze Zeit später wurde auch dieses Haus zerbombt. In dieser Nacht wurde mir mein Leben zweimal geschenkt und diese Erfahrung hat mich verändert. Das begleitet mich bis heute. Darum rege ich mich über Kleinigkei­ten gar nicht auf. Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachs­en. Zusammen mit meinen Tanten und Onkeln haben wir viel Zeit verbracht und hatten eine enge Verbindung zueinander. Dieser Zusammenha­lt hat mich stark geprägt. Auch wenn mir das die Leute nicht glauben, bei uns gab es nie Streit.

Ich kann bis heute nicht verstehen, warum Menschen wegen so vielen Kleinigkei­ten streiten.

Jeder will recht haben, dabei ist das gar nicht wichtig. Seit dieser Bombennach­t weiß ich, dass so vieles gar nicht wichtig ist. Hauptsache, man ist gesund. Wir hatten nichts mehr, außer die Kleider an unserem Leib. Heute frage ich mich oft, wie wir damals durchgekom­men sind. Aber wir waren einfach zufrieden, auch wenn wir nicht viel hatten. Ich habe überlebt und aus diesem Glück Mut geschöpft. Ich habe mir eine Arbeit gesucht und auch während des Krieges immer viel Sport gemacht – beides hat mir sehr viel Halt gegeben.

Es gab danach noch die ein oder andere schwierige Zeit in meinem Leben, aber ich war immer lustig und wusste, irgendwann wird sich alles lösen.

Centa Weith, 100, ehem. kaufmännis­che Angestellt­e, Augsburg

Protokolli­ert und zusammenge­stellt von Viktoria Gerg, Margit Hufnagel, Simon Kaminski, Franziska Kollmann, Katja Neitehamme­r, Theresa Osterried und Stefanie Wirsching.

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Links oben: Pater Anselm Grün, darunter Renate Schmidt, Mitte oben: Theo Waigel, darunter Ulrich Kirsch und Elmar Leib. Fotos: Julia Martin, Abtei Münstersch­warzach; Imago; Ralf Lienert (2); Leib
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Fotos: Theresa Osterried; Fred Schöllhorn; Marcus Merk; Marijan Murat, dpa; Ulrich Wagner Links oben: Valentin Mayer, Mitte oben: Rose Maier Haid, darunter Martha Schad, Edzard Reuter und Centa Weith.

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