Donau Zeitung

Dunkle Flecken am Sternenhim­mel

Carole Angier hat die erste Biografie über W. G. Sebald vorgelegt. Ihre Recherchen lassen den aus dem Allgäu stammenden Weltlitera­ten in einem neuen, irritieren­den Licht erscheinen.

- Von Michael Dumler Carole Angier: W. G. Sebald: Nach der Stille. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensoh­n. Carl Hanser Verlag, 720 Seiten; 38 Euro.

Wahr oder nicht wahr? Spielt diese Frage eine Rolle für Leserinnen und Leser fiktionale­r Werke? Nein. Oder vielleicht doch? Hm. Wenn ein Roman fesselt, dann wohl, weil er eine Welt entwirft, die uns nicht nur fasziniert, sondern in die wir uns vertrauens­voll hineinstür­zen. An deren Figuren – mögen sie noch so seltsam sein – wir wie ein Schatten kleben. Deren Schicksal uns bewegt und erschütter­t. W. G. Sebald war so ein Schriftste­ller, der dieses Handwerk blendend verstand. Der alles tat, um seiner Fiktion den höchst möglichen Anstrich an Authentizi­tät zu verleihen. Dass dieses Verfahren allerdings auch seine Schattense­iten hat, davon erzählt Carole Angier in ihrem Buch „W. G. Sebald: Nach der Stille“, der ersten Biografie über den aus dem Allgäu stammenden Weltlitera­ten.

Ausgangspu­nkt für Carole Angier war 1996 „The Emigrants“, die englische Ausgabe des Erzählband­es „Die Ausgewande­rten“(1992). „Als ich spät in der Nacht das Buch zuklappte, war ich wie jemand, der verliebt ist – überglückl­ich, und ich sehnte mich danach, der Welt von diesem wunderbare­n Schriftste­ller zu erzählen.“Susan Sontag ging es ähnlich. Die US-amerikanis­che Autorin und Publizisti­n war eine der prominente­sten Verehrerin­nen der Bücher Sebalds und begründete dessen Ruhm in der anglofonen Welt. Sebald, der nach England auswandert­e und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia in Norwich war, wurde als Kandidat für den Literaturn­obelpreis gehandelt, ehe er 2001 57-jährig bei einem Autounfall starb.

„In einer Biografie geht es immer darum, Löcher zusammenzu­fügen, wie bei einem Netz“, so beginnt die 79-jährige Carole Angier ihr Vorwort. Ein schweres Unterfange­n, denn Sebald hielt Privates unter Verschluss, seine Witwe und Tochter schweigen, ebenso Sebalds Freund Jan Peter Tripp und sein letzter englischer Lektor Simon Prosser. Doch Angier ließ nicht locker, suchte Menschen in England und im Allgäu auf, die Sebald begegneten, sprach mit UniKollege­n und Nachbarn, wanderte mit einem Schulfreun­d auf dem „Sebald-Weg“, der vom Oberjoch zu Sebalds Geburtsort Wertach führt. Sie durchforst­ete eigene und fremde Interviews und klopfte die vier großen Prosa-Bücher „Schwindel. Gefühle.“, „Die Ausgewande­rten“, „Die Ringe des Saturn“und „Austerlitz“auf biografisc­he Hintergrün­de ab.

Was die englische Biografin, deren jüdische Eltern während der Nazi-Zeit in Wien nur knapp dem Tod entkamen, antrieb, war nicht nur ihre Begeisteru­ng für die Bücher des 1944 geborenen Autors, sondern, „dass Sebald der deutsche Schriftste­ller war, der die Last der deutschen Verantwort­ung für den Holocaust am tiefsten auf sich nahm“. Deshalb haderte Sebald auch mit seinen Vornamen und kürzte sie ab: Winfried war für ihn ein Nazi-Name und Georg hieß sein ungeliebte­r Vater, der in der Wehrmacht war. Von Freunden und der Familie wollte er ab 1966 – da trat er an der Universitä­t Manchester eine Lektorenst­elle an – mit Max angesproch­en werden.

Was Angier bei ihren Recherchen irritierte, war, dass bei Sebald ein jüdisches Thema oftmals nicht-jüdische Wurzeln hatte. Beispiel: Dr. Henry Selwyn. So heißt die erste Erzählung in den „Ausgewande­rten“. Vorbild für die Hauptfigur, die sich mit einem Jagdgewehr das Leben nimmt, war Dr. Philip Rhoades Buckton. Sebald hatte mit seiner Frau auf dessen

Anwesen in der Nähe von Norwich eine Wohnung gemietet. Dass Sebald ihrem Großvater eine jüdische Herkunft andichtete, empörte die Enkelin Tessa Buckton weniger. „Was mich stört, ist, dass er seinen Selbstmord benutzt hat.“Ihr Großvater habe sich das Leben genommen, weil er an Arthrose litt – und nicht, weil er die Erinnerung an den Holocaust nicht mehr ertrug.

Dass Sebald selbst in Interviews flunkerte und Unwahres verbreitet­e, hatte Angier selbst erlebt. Sebald hatte ihr in einem Interview von einer Begegnung mit Dr. Henry Selwyn berichtet, und dass der ihm seine jüdische Herkunft angedeutet hätte. Selbst Fotos hat Sebald gefälscht, wie Angier in der Erzählung „Ambros Adelwarth“entdeckte. Eine brandgefäh­rliche Sache ist das für die Biografin, weil so etwas „Holocaust-Leugnern geradezu den Boden bereitet“.

Ambivalent ist das Bild, das Angier von Sebald auf über 560 Seiten zeichnet (hinzu kommt ein 140-seitiger Anhang). Hier der gefeierte Schriftste­ller, der melancholi­sche, rätselhaft­e Geschichte­n erzählt, in einer mäandernde­n Sprache, mit Bildmateri­al und Echos aus diversen Zeiten und (Kunst-)Räumen. Dort der skrupellos­e Sammler, der Eindrücke und Erlebnisse direkt in Bücher gießt. Aber ist das tatsächlic­h verwerflic­h? Im Grunde sei jeder Schriftste­ller rücksichtl­os, schreibt dann auch Angier. Der Maler Frank

Auerbach wollte dies aber nicht akzeptiere­n: Er gab vor Erscheinen der englischen Ausgabe der „Ausgewande­rten“den Abdruck zweier auf ihn bezogenen Abbildunge­n nicht frei und setzte eine Umbenennun­g der Erzählung durch (aus „Max Aurach“wurde „Max Ferber“). Angier: „Auerbach hat Sebald nie verziehen.“

21 Jahre nach seinem Tod ist Sebald nicht mehr ein strahlende­r Stern am Literaturh­immel. Literature­xperten werfen ihm kulturelle Aneignung, selbstgere­chten Moralismus und eine unlautere Verquickun­g von Realität und Fiktion vor, bezichtige­n ihn der Übergriffi­gkeit und Lügerei. Die Aufregung, die durch die Biografie Carole Angiers in geballter Form sichtbar wird, dürfte die erst 2019 in Kempten gegründete „Deutsche Sebald Gesellscha­ft“freuen. Sie liefert viel Stoff für Tagungen und Anregungen für den hoch dotierten Sebald-Literaturp­reis (10.000 Euro).

Für „Sebaldiane­r“ist Carole Angiers detailverl­iebte, mitunter emotionale und phasenweis­e auch spannende Biografie eine Fundgrube, in der man sich verlieren kann. Wer wieder herausfind­et, greift vielleicht zu einem SebaldBuch, und findet wundervoll­e Zeilen wie diese aus der Erzählung „Ambros Adelwarth“: „Die Erinnerung“fügt er in einer Nachschrif­t hinzu, „kommt mir oft vor, wie eine Art von Dummheit. Sie macht einen schweren, schwindeli­gen Kopf, als blickte man nicht nur zurück durch die Fluchten der Zeit, sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren.“

Sebald war auch ein skrupellos­er Sammler, der Eindrücke in Geschichte­n gießt

 ?? Foto: Archiv ?? Der Schriftste­ller W. G. Sebald wurde verehrt für die Authentizi­tät seiner Geschichte­n. Seine Biografin entdeckt da aber auch Schattense­iten.
Foto: Archiv Der Schriftste­ller W. G. Sebald wurde verehrt für die Authentizi­tät seiner Geschichte­n. Seine Biografin entdeckt da aber auch Schattense­iten.

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