Glaube heißt nicht wissen? Für einen Hirnforscher und einen Priester ist das allzu schlicht. Unterwegs mit den beiden auf einer fantastischen Reise zu den Ursprüngen des Glaubens und wieder zurück. Eine Reise, bei der es unfassbar viel zu entdecken gibt.
Stünde hier ein Comic, er wäre eine Mischung aus Lustigem Taschenbuch rund um Donald Duck und seine Freunde und aus „Es war einmal … das Leben“, eine fantastische Reise. Hier wären jede Menge Bildchen zu sehen, meisterhaft schraffiert und koloriert, die etwas Unfassbares zu fassen suchten. Samt Sprechblasen, in denen immer wieder in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen geschrieben wäre:
WOW!
Der Plot: Ein Forscher saust in einer Art Daniel Düsentrieb’schem Fluggerät durch Raum und Zeit, um seinen Neffen eine Frage zu beantworten. Er legt mit ihnen einen Stopp am Lagerfeuer früher Menschen ein, „ganz schön was los“, und untersucht eines ihrer Gräber. Er staunt über die Grabbeigaben, hält eine prüfend gegen das Sonnenlicht und dann einen Vortrag darüber, warum sie, diese kleine, kunstvoll gearbeitete Grabbeigabe, einen riesigen Schritt in der Geschichte der Menschheit bedeutet. Plötzlich bricht ein Vulkan aus, „alle zurück an Bord“– „Puh, geschafft“.
Nächster Halt: das menschliche Gehirn. Der Forscher schrumpft sich und seine Reisebegleiter, um mit ihnen durchs Ohr in einen Kopf … Sie fliegen einfach hinein.
SAUS!
Nach einigen Loopings und Turbulenzen landet die Abenteurer-Gruppe an einem völlig anderen Ort und im zu Ende gehenden Jahr 2022. Sie befindet sich, wusch, im Wohnzimmer eines katholischen Priesters in Augsburg, der ihr bei einem Glas Wein – die Neffen trinken Saft – so einiges mit auf den Weg gibt, das sie nachdenklich stimmt. Zuletzt spricht der Forscher erstaunliche, da von ihm nicht erwartete Sätze. – ENDE.
Nein, zurück zum Anfang. Hinein in diesen Text, der offensichtlich kein Comic, aber eine fantastsche Reise ist. Eine, die mit drei Wörtern und einem Fragezeichen beginnt: Was ist Glaube?
UFFZ!
Denn wie das so ist: Die wirklich großen Fragen kommen mit wirklich wenigen Wörtern aus und ziehen weitere Fragen nach sich, viele Fragen. Wer fragt, was Glaube ist, fragt auch: Wie entstand Religion? Und, unweigerlich: Welchen Sinn hat das Leben? Wieso, weshalb, warum? Schnell schwirrt einem der Kopf.
GRÜBEL, GRÜBEL!
Daher: Anruf bei Prof. Dr. rer. nat. RobertBenjamin Illing, 69, ehemals Universitätsklinikum Freiburg, seit wenigen Jahren emeritiert. Hauptgebiete: Hirnforschung, Neurobiologie. Illing hat eine angenehm weiche Stimme. Und eine Theorie. Zunächst eine seiner Definitionen: Demnach ist Glaube ein System von Vorstellungen, die Phänomene verbinden, denen wir begegnen in unserer Welt und Lebenspraxis – und von denen wir hoffen, dass sie uns in irgendeiner Weise helfen. „Der Sinn von Glaube ist also, dass er uns ein verbessertes Leben gewähren kann.“
Und jetzt geht es tief in die Vergangenheit. Der Moment, sagt Illing, in dem die Menschen ihre eigene Gefährdetheit und Sterblichkeit entdeckten, müsse eine große Krise ausgelöst haben: „Warum mache ich das alles, wenn ich doch sterben muss und nichts Bleibendes zustande bringen kann? Was soll das?“
Es seien solche Gedanken, die Homo sapiens in Gemeinschaft besprechen konnte. Am Lagerfeuer seien derartige Gespräche über Nicht-Alltägliches möglich geworden. Es seien hier wohl Bilder und Mythen entstanden. Naturkräfte, die man beobachtete, seien personifiziert und transzendiert worden. Stürme, Vulkanausbrüche, Dürren, wilde Tiere. Man habe sich vermutlich als machtlos ihnen gegenüber empfunden, geglaubt, in ihnen einen Willen,
vielleicht Strafaktionen erkennen zu können. Und Positives wie Sonne und Regen als Lebensspender. „All das führte schließlich zu verschiedenen Glaubenssystemen.“Menschen hätten das Bedürfnis, die Welt zu erklären, und zwar weit hinaus über das, was direkt erfahrbar und naturwissenschaftlich messbar ist. „Dieses Bedürfnis wurzelt in uns – wegen der großen Frage nach dem Sinn des Lebens.“
Weiter geht’s, mit der Entstehung von Religionen. Als Anhaltspunkt dafür betrachtet Illing die Funde von Beigaben in zehntausende Jahre alten Gräbern. Tiere, Gebrauchsgegenstände, Schmuck. „Die Annahme, die man daraus ableiten könnte, ist, dass es eine Vorstellung darüber gab, dass irgendeine Art von Jenseits da sein und mitbedacht werden müsse“, sagt er. Sagt, dass Religions-, dass Glaubensgemeinschaften
etwas sehr Hilfreiches für viele Menschen waren und sind. „Sie erfahren hier Zugehörigkeit, sie teilen ihr Schicksal, ihr Leben mit anderen und lassen sich von diesen, wenn sie unsicher sind, bestätigen. Das ist sinnvoll. Die existenzielle Verlorenheit des Menschen, diese Sinnkrise, ist eine Motivation, sich in solche Gemeinschaften hineinzubegeben. Sie helfen, die Sinnkrise zu überwinden.“
Drei Wörter, ein Fragezeichen – und schon ist man mittendrin in den großen Menschheitsfragen.
Weil das eine mit dem anderen zusammenhängt, klar, vor allem jedoch, weil Sinnsuche etwas Essenzielles und Existenzielles für uns sei, wie es Illing formuliert. „Die existenzielle Verlorenheit des Menschen könnte man ruhig als Menschheitskrise bezeichnen. Es ist eine Krise auch, die jeder Mensch für sich erlebt.“Glaube soll und kann darauf – und auf unsere Ängste vor Tod oder Krankheit – eine Antwort sein. Dass er nicht die Antwort ist, erklärt
Illing damit, dass wir unsere Sinnstiftungen stets als Provisorien, als Systeme erkennen, die auswechselbar seien. Wir probieren aus, wir verwerfen.
Was, nebenbei, ein neues Licht auf die gegenwärtige Krise der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland zu werfen vermag. Mit Illings Ausführungen im Hinterkopf kann man die Annahme äußern: Die durch diverse Skandale in ihrer Glaubwürdigkeit erschütterte und für viele irrelevant gewordene Institution stellt keinen Wegbegleiter mehr dar, der als hilfreich empfunden würde – zur Bewältigung des Alltags genauso wie zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens. Als Konsequenz werde, sagt Illing, Sinn in anderen Zusammenhängen als beispielsweise im christlichen Glauben gesucht, etwa in esoterischen Angeboten.
Und das menschliche Gehirn? Welche Rolle kommt ihm zu?
Illing hat die Plastizität des Gehirns, das heißt die Veränderbarkeit von Nervenstrukturen infolge von Sinneserfahrungen erforscht. Bereits 2014 führte er bei einem „Streitgespräch“mit einem evangelischen Theologen zur Frage „Entsteht Religion im Gehirn?“an der Universität Münster aus: Unser Gehirn sei „als Zwischenergebnis einer jahrmillionenlangen stammesgeschichtlichen Entwicklung“entstanden. Im Laufe der Evolution sei es zu einer zunehmend spezifischen Anpassung unserer Sinnes- und Gehirnfunktionen an eine immer komplexer werdende Umwelt gekommen. „Um uns darin schnell und sicher zu orientieren, produzieren unsere Sinnesund Denkorgane unablässig nützliche, aber keineswegs unfehlbare Hypothesen über Dinge, Gesetzmäßigkeiten und Absichten.“Deshalb sei die Welt weder so, wie wir sie sehen, noch so, wie wir sie denken.
Wer da meint, Glaube heiße nicht wissen, macht es sich zu leicht. Das findet auch der gebürtige Pfälzer Thomas Schwartz, 58, Theologe, Honorarprofessor, Autor. Lange war er katholischer Hochschulpfarrer in Augsburg, danach Pfarrer von Mering im Landkreis AichachFriedberg. Inzwischen ist er Hauptgeschäftsführer des Mittel- und OsteuropaHilfswerks Renovabis der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Bundesweit
„Der Sinn von Glaube ist, dass er uns ein verbessertes Leben gewähren kann.“
Robert-Benjamin Illing, Hirnforscher
bekannt wurde er durch seine gemeinsamen TV-Auftritte mit dem Astrophysiker und Moderator Harald Lesch.
Auch an ihn zuerst die Frage: Was ist Glaube? Wie definiert er den Begriff? Schwartz antwortet unmittelbar, ohne nachzudenken. Er wird sich die Frage selbst oft gestellt – und vielen Menschen beantwortet haben. „Glaube heißt für mich zunächst einmal, dass es einen Gott gibt, eine Instanz, an die ich mich rückbinden kann, die mir sagt: ,Es ist gut, dass es dich gibt.‘“Sein Glaube helfe ihm, Hoffnung zu schöpfen. In Augenblicken, in denen er keine Antworten mehr auf das, was geschehe, finde.
Darauf einen Schluck Weißwein. Und nun hinein in dieses Gespräch, in dem eine Antwort mindestens zwei Fragen nach sich ziehen könnte. Ist ja auch kompliziert mit dem Glauben, hier mit dem christlichen, dem an Gott, genauer an den dreieinigen Gott aus Vater, Sohn – Jesus Christus – und Heiligem Geist.
Schwartz erwähnt seine Taxifahrten in Berlin. Er hat dort mittlerweile häufiger zu tun. Die Fahrer, darunter Muslime, sähen an seinem weißen Stehkragen, dem Kollar, dass er Priester ist. Und fragten ihn – nach der Dreieinigkeit. Sie sagten zum Beispiel: „Diese Dreieinigkeit, von denen ihr Christen immer redet, die fasse ich nicht.“Schwartz versucht dann zu erklären. Ob er verstanden wird?
Ihm fällt dazu eine berühmte Geschichte ein, die er sinngemäß nacherzählt: Der heilige Augustinus sieht am Strand ein Kind, das mit einem Schöpflöffel Wasser aus dem Meer in ein Loch gießt. „Ich schöpfe das Meer in dieses Loch hinein“, erklärt ihm das Kind. „Das schaffst du nie“, entgegnet Augustinus. Darauf das Kind: „Genauso wenig wird es dir, Augustinus, möglich sein, das tiefste Wesen der Dreieinigkeit zu verstehen.“
Glauben heißt nicht wissen? Seine Berliner Taxifahrer hätten am Ende der Fahrt vom Flughafen nach Mitte zumindest einen Einblick in das Denken von Christen bekommen, sagt Schwartz. Zumindest in das Denken dieses Mannes des Glaubens, muss man wohl ergänzen.
Schließlich glauben bei weitem nicht alle „Gläubigen“, in diesem Fall Katholiken, an Gott (das tun lediglich 74 Prozent der im Sommer 2020 für den MDG-Trendmonitor befragten 1690 Katholikinnen und Katholiken), an die Dreifaltigkeit (46 Prozent), an die Auferstehung der Toten (39), an die Existenz des „Himmels“(43) oder der „Hölle“(22).
Erst im November wurde eine weitere – für katholische wie evangelische Kirche – ernüchternde Umfrage veröffentlicht. Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband hatte die Forschungsgruppe Wahlen erheben lassen, wie viele Deutsche an ein Leben nach dem Tod glauben. Es waren 38 Prozent. Hatten sich vor zehn Jahren noch 59 Prozent der Befragten als religiös bezeichnet, waren es 2022 48 Prozent. Auf die Frage, woran genau sie glauben, antworteten 33 Prozent „an einen Gott“und 27 Prozent „an irgendeine geistige Macht“. Darauf einen Schluck Wein.
Thomas Schwartz, katholischer Priester
Herr Schwartz, was bedeutet es, wenn Christen an zentrale Glaubensinhalte nicht mehr glauben?
Thomas Schwartz: Ich glaube, sie haben Angst vor dem Sprung in eine nicht bewiesene Wirklichkeit. Wir leben in einer Zeit, in der man alles wissenschaftlich begründen zu können meint. Das ist ein Fehlschluss: Wir können vieles wissenschaftlich beschreiben, begründen können wir das wenigste.
Glauben heißt nicht wissen?
Schwartz: Ja. Aber es heißt auch: etwas für wahr halten. Gott kann man nicht erklären, wie man Naturgesetze erklären kann. Der Glaube erschließt uns einen Horizont, der jenseits davon liegt. Er erschließt uns einen ganz anderen Raum, einen Raum dessen, was nicht erklärt werden muss, sondern erhofft werden kann.
Dafür braucht es die Kirche?
Schwartz: Glauben kommt vom Weitererzählen
und vom Hören. Von Zeugen. Von Menschen, die ihren Glauben bezeugen, die ihn glaubwürdig leben und anderen zeigen. Ich hab mir meinen Glauben ja nicht selbst gemacht. Ich habe ihn von meinen Eltern und Großeltern empfangen. Sie haben mir aus der Bibel vorgelesen, als ich ein Kind war – und so den christlichen Glauben auch bewahrt. Das ist Kirche: Kirche als Gemeinschaft derer, die auf Gott hören und Gott gehören. Insofern gibt es keinen christlichen Glauben ohne Kirche.
Man kann an anderes glauben. Es heißt zum Beispiel „Verschwörungsglauben“.
Schwartz: Mit christlichem Glauben hat das allerdings nichts zu tun. Verschwörungsgläubige glauben oft, sie würden nicht ernst genommen, und erheben laut ihre Stimme, weil „die da oben“sie nicht hören würden. Christlicher Glaube sagt: „,Der da oben‘ sieht euch, hört euch, nimmt euch ernst. Gott ist an eurer Seite.“
Aber christlicher Glaube kann so kompliziert sein – denken Sie an Ihre Gespräche mit Berliner Taxifahrern!
Schwartz: Seine Grundaussagen sind gleichwohl einfach: Gott ist die Liebe! Jesus ist auferstanden! Was wir in unserer Zeit wieder mehr bräuchten, ist meiner Auffassung nach Mystik – im Sinne innerlicher Erfahrungen der Gegenwart Gottes.
Gotteserfahrungen. Schwartz erzählt von einer aus seinen Studientagen in Rom: Er eilte von einer Vorlesung zur nächsten, als ihn in der Nähe der Lateranbasilika eine Frau mit kleinem Kind anbettelte. Er reichte ihr 1000 Lire, damals etwas über eine Mark. Sie lehnte ab. Wollte sie mehr? Er reichte ihr verärgert 5000 Lire. Die Zeit drängte. „Ich will dein Geld nicht“, sagte sie zu ihm, dem durch sein Kollar als Priester erkennbaren jungen Mann. „Geh mit mir in die Apotheke, dort gibt es Windeln.“
Heute sagt er: „Ich wollte mich mit Geld freikaufen.“Er ging mit der Frau und ihrem Kind in die Apotheke, erkundigte sich nach Windeln und deren Preis. Die Apothekerin antwortete ihm, er brauche sich nicht darum zu kümmern, sie mache das schon. „Da ist mir deutlich geworden: Gott wollte, dass ich der Frau und ihrem Kind das Wertvollste schenke, das ich in dem Moment hatte: meine Zeit. Dass ich mitgehe, mit anderen und mit Gott. Ich bin aus der Apotheke raus, erfüllt von dem Gedanken: Gott hat mich gerade benutzt.“Er sei zum Instrument Gottes geworden.
Die Nacht liegt schwarz über Augsburg, die Gläser sind geleert und das lange Gespräch mit Thomas Schwartz endet mit einem Glaubensbekenntnis. „Ich glaube an Gott, einen Gott, der aus kleinsten Samen einen großen Baum wachsen lassen kann. In diesen Gott setze ich mein Vertrauen und dieser Gott gibt mir Kraft. Das lässt mich jeden Tag neu beginnen. Gott ist mit mir, mit uns – das ist die Weihnachtsbotschaft. Jesus lebt, und ich mit ihm“, sagt er, der Priester.
Damit endet auch diese Reise, an deren Anfang drei Wörter und ein Fragezeichen standen: Was ist Glaube? Das Düsentriebartige Fluggerät, das durch Raum und Zeit sauste, setzt zur Landung an.
ZISCH! ÄCHZ! PARDAUZ! Stünde hier ein Comic, seine Panels, die einzelnen Bilder, hätten Ausschnitte von etwas Unfassbarem gezeigt. Die knapp 400 Zeilen dieses Textes „tun“nichts anderes: Sie näherten sich dem Thema Glaube an. Wie es Robert-Benjamin Illing, der Neurobiologe, tat. Gebeten um eine Bilanz seiner Forschungsarbeit über den Komplex „Gehirn – Glaube – Religion“, sagt er: „Nach meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem menschlichen Gehirn, kann ich Ihnen etwas sagen, dass Sie vermutlich enttäuschen wird: Im Gehirn wird alles das, was wir besprochen haben, gespiegelt. Ich glaube aber nicht, dass wir dadurch irgendetwas erklären können.“Wie er das meine? „Nehmen Sie die Messungen, die man an meditierenden Mönchen vorgenommen hat: Natürlich kann man erkennen, welche Hirnareale währenddessen aktiv sind oder sich verändern – aber eigentlich ist das trivial.“Im Gehirn jedenfalls entstehe Religion nicht.
Wissenschaft und Glaube gingen bei ihm gut zusammen, sagt er zum Abschied noch. „Weil ich weiß, dass wir ohne die Vorstellung eines Jenseits keinen Lebenssinn und Lebensmut finden können.“Und Gott? Er sei kein Atheist. „Gott ist für mich das große Unbekannte, das hinter allem steht.“– ENDE.
„Wir können vieles wissenschaftlich beschreiben, begründen können wir das wenigste.“