Das große, verdrängte Sterben auf dem Planeten
In Montreal kommen die Staaten zusammen, um das massenhafte Aussterben der Tiere zu stoppen. Die Lage ist dramatisch – und weitgehend unbemerkt. Das muss sich ändern.
Was haben die Europäische Sumpfschildkröte, der Feldhamster und die Moorente gemeinsam? Sie teilen ein trauriges Schicksal. Denn wird ihnen nicht schnell geholfen, dann könnten sie in Deutschland verschwinden. Die drei Tierarten gelten als vom Aussterben bedroht. Immerhin haben sie den Vorteil, dass sich jeder unter ihren Namen etwas vorstellen kann. Doch die Schöpfung ist mannigfaltig, in ihrer Verschiedenheit überwältigend und den allermeisten Menschen in ihrer Gänze verborgen.
Wer kennt schon die Vielfalt der Käfer, des Gewürms und der Insekten? Fast niemand. Und weil sie fast niemand kennt, diese Tiere klein und manchmal abstoßend hässlich sind, fällt es niemandem auf, wenn sie nicht mehr da sind. In Deutschland sind 75 Prozent der Insekten verschwunden. Wer vor 30 Jahren im Sommer mit seinem Auto fuhr, hatte schnell ein Blutbad auf Windschutzscheibe und Frontpartie. Die Tankstellen verkauften spezielle Reinigungsmittel zum Entfernen der Insekten. Heute ist das nicht mehr nötig, weil viel weniger Tierchen durch die Lüfte fliegen.
Der gewaltige Artenschwund ist ein weltweites Phänomen. Die Zahlen sind erschreckend. In den vergangenen 50 Jahren sind laut WWF und Zoologischer Gesellschaft Londons die Bestände der Wirbeltiere um 69 Prozent eingebrochen. Zu den Wirbeltieren gehören Fische, Vögel, Reptilien, Amphibien und Säugetiere. Wissenschaftler befürchten, dass bis Ende des Jahrhunderts eine Million Arten ausgestorben sein könnte. Schuld daran trägt der Mensch, der den Planeten verbraucht und die Aufheizung der Erde befeuert. Je wärmer es wird, desto brenzliger wird es für die Existenz vieler Tiere.
In Montreal versuchen die Staaten der Welt, das große Sterben zu bremsen. Sie treten zur 15. Weltbiodiversitätskonferenz zusammen. Es ist wie der Klimagipfel zur Rettung der Vielfalt in der Schöpfung. Mächtige Staats- und Regierungschefs haben sich nicht angesagt. Das zeigt, welchen Stellenwert das drückende Problem hat. Wie beim Klimaschutz geht es auch darum, wer mehr für den Schutz der Natur tun muss und wer das bezahlt.
Die reichen Staaten der Nordhalbkugel, mithin auch Deutschland, haben eine besondere Verantwortung. Trotz ihres Hungers nach Rohstoffen dürfen Regenwälder, Gebirge und die Meere nicht restlos ausgebeutet werden. Die ärmeren Länder sollten Geld bekommen, wenn sie zum Beispiel Öl unter dem Amazonas belassen und dafür auf Einnahmen verzichten. Wie beim Klimaschutz reicht es nicht aus, das eine zu tun und das andere zu lassen. Auch zu Hause stehen die Populationen unter extremem Druck.
Es wird nicht dazu kommen, dass weite Teile Deutschlands zum Nationalpark werden. Dennoch können wir nicht so weiterwirtschaften wie bisher. Der Flächenfraß für Straßen, Wohn- und Gewerbegebiete muss gebremst werden. Die Landwirtschaft muss ein wenig wie früher werden – kleinteiliger, ohne viel Gift und weg von den Monokulturen. Dafür müssen die Bauern staatlich entschädigt werden. Gleiches gilt für die Wälder und deren Besitzer. Die Zeit für neue Skigebiete in den Alpen ist abgelaufen. Die Flüsse müssen zumindest auf einem Teil ihrer Länge aus ihren begradigten Korsetten befreit werden.
Beeindruckend und hoffnungsspendend ist, wie schnell sich die Natur regeneriert und bedrohte Arten zurückkehren, wenn man sie lässt. Deutschland wird sich nicht zum Agrarland des Jahres 1800 zurückverwandeln. Doch es geht darum, Tieren und Pflanzen bewusst Gebiete zu schaffen, in denen sie sich halten können.
Mächtige Staats- und Regierungschefs kommen nicht